Berliner Theatertreffen –  „Ein Bus nach Dachau“ – Ein 21st Century Erinnerungsstück von De Warme Winkel in Kooperation mit dem Theater Bochum

Theaterkritik "Die Reise nach Dachau" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de.

Ein gigantischer, fensterloser Holzkubus auf der Bühne, davor ein Dozent mit einer kleinen Gruppe KZ-Besucher signalisieren sofort, worum es geht. Wie erhält man die Erinnerung an den Holocaust aufrecht?
Die Konzeption ist interessant. Die Bühne verwandelt sich von der Vortragssituation in ein Filmset über die Reise ehemaliger niederländischer Widerstandskämpfer in das Konzentrationslager Dachau, wo sie zwischen 1940 und 1945 interniert waren. 
Basis sind die Erinnerungen von Ward Weemhoffs Vater. Er schrieb ein Filmskript, das nie verwirklicht wurde. Sein Sohn, Mitglied des niederländischen Theaterkollektivs De Warme Winkel brachte es als experimentelles Theater „Ein Bus nach Dachau“ auf die Bühne in Kooperation mit dem Schauspielhaus Bochum und dem Internationalen Theater Amsterdam.  Die Inszenierung wurde für das Berliner Theatertreffen 2023 ausgewählt…

Berlin – Mit Philipp Stölzls „Das Vermächtnis“ vom Residenztheater München gelang ein fulminanter Beginn der Berliner Theatertage

Theaterkritik "Das Vermächtnis" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de.

Sieben Stunden Theater und kein bisschen langweilig! In einem Feuerwerk von schnell wechselnden Bühnensituationen verortet Philipp Stölzl das Epos homosexueller Historie über drei Generationen hinweg, von der Freiheit der 1970er Jahre über die epidemische Verbreitung des HIV-Virus Anfang der 1980er Jahre und der daraus folgenden Ächtung der Homosexuellen bis zur späteren gesellschaftlichen Akzeptanz. Doch es geht nicht um die Nabelschau Homosexueller, sondern um die Frage, welche Beziehungen lassen sich über Homosexualität herstellen, vermehren und gestalten. 
Die deutschsprachige Erstaufführung des „Vermächtnisses“ von Matthew Lopez frei nach dem Roman „Howards End“ von E. M. Forster am Residenztheater München wurde als Auftaktveranstaltung bei den Berliner Festspielen 2023 mit Standing Ovations gefeiert…

Landshut – Sarah Nemitz’ und Lutz Hübners  „Furor“ in den Landshuter Kammerspielen

Theaterkritik "Furor" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de.

Es dröhnt, als würden sich Bomber nähern. Was folgt sind tatsächlich Bomben. Verbal verbreiten sie „Furor“. Das erfolgreiche Autorenteam Sarah Nemitz und Lutz Hübner hat sich, sehr sorgfältig recherchiert, auf kontroverse  gesellschaftliche Perspektiven und Schieflagen spezialisiert. Ihr Theaterstück „Frau Müller muss weg“, 2015 verfilmt, wurde ein Kinohit. Ihr Stück „Furor“ 2018 kurz vor Corona geschrieben kreist um die Frage, warum die Demokratie immer mehr erodiert und nimmt schon vorweg, was in der derzeitigen Hass-, Woke- und Cancel Culture voll aufschlägt. Unter der Regie von Matthias Eberth entwickelt sich ein subtiles Kammerspiel konträrer Positionen in atemloser Steigerung den Figuren entlang, von Andreas Sigrist, Katja Amberger und Laura Puschek mit berührender Authentizität und explosiver Lebendigkeit gespielt…

Landshut/Passau – Juli Zehs „Corpus Delecti“ im Landestheater Niederbayern

Juli Zehs "Corpus Delicti" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de.

„Der Mensch ist ein Lebewesen. Als solches will er leben“. Aber wie? Schon das Bühnenbild, eine weiße, schlichte Küchenzeile mit laufender Waschmaschine und großen hellblauen prall gefüllten Müllsäcken, viel Raum darüber für das höhere Gericht verweisen symbolisch auf das Waschen schmutziger Wäsche und eine alles überblickende Strafjustiz…

Landshut – Kultstück „Indien“ in den Kammerspielen Landshut

Theaterkritik "Indien" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

Auf Anhieb wurde Josef Haders und Alfred Dorfers „Indien“ zum Kult, als das Stück von der Kabarettbühne einen überraschend guten Filmstart (1993) hinlegte. Jetzt übernehmen Andreas Bittl und Sven Hussock die Rollen der beiden gastronomischen Qualitätsprüfer Heinz Bösel und Kurt Fellner im Kleinen Theater Landshut. Die Geschichte bleibt die gleiche. Der eine mit Minimalhorizont nicht […]

Landshut – „Oleanna“ in den Kammerspielen

Folienvexierspiegel auf der Bühne, dazwischen flimmern auf Monitoren verführerische Frauen, begehrt von den Blicken der Männer. Carlotta Salamon spiegelt in David Mamets Stück „Oleanna“ nicht nur die selbstverständliche Rollenerwartung des Mannes an die Frau, sondern auch deren gesellschaftliche Verankerung durch mediale Berieselung und gleichzeitig die sedimentierten Rollenklischees im Denken der Zuschauer, die ein spannender Theaterabend erwartet…

Landshut – Tom Waits Theatermusical „Black Rider“ im Landestheater Niederbayern

Musicalkritik "Black Rider" im Landestheater Niederbayern präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

Wie inszeniert man ein Kultstück, bei dem sich jede Szene im Gehirn der Fans festgehakt hat? Bei „The Rocky Horror Picture Show“(2016)  blieb das Landestheater Niederbayern ganz bei der ursprünglichen Version. Regisseur Johannes Reitmeier, von 1996 bis 2002 Intendant in Landshut, hat den Mut und die Phantasie, „Black Rider“ ganz konträr zu Robert Wilsons charismatisch reduzierter Welturaufführung (1990) zu präsentieren…

Berlin – Annie Ernaux’ „Das Ereignis“ im Berliner Ensemble

Annie Ernaux "Das Ereignis" im Berliner Ensemble präsentiert von www.schabel-kultur-blog.

Silbern funkelt die Bühne, vergraut zum Alltag, in dem die Wahrheitssuche durch ein monologisierendes Selbstbekenntnis beginnt. Drei Schauspielerinnen zeigen aus verschiedenen Altersperspektiven die Problematik von Annie Ernaux‘ illegaler Abtreibung in den 1960er Jahren. Weiß gekleidet symbolisieren sie die Unschuld. Unter der Regie von Laura Linnenbaum gelingt ein spannender, achtsamer wie turbulenter Theaterabend…

Landshut – Nick Hornbys „NippleJesus“ in den Kammerspielen Landshut

„Von weitem wunderschön, richtig hässlich ganz in der Nähe“, kommentiert der Saalwärter Dave das Werk einer jungen Künstlerin. In einem abgetrennten Raum hängt Jesus am Kreuz mit schmerzverzerrtem Gesicht. Das beeindruckt sogar Dave, der mit Religion nicht viel am Hut hat. Doch als er näher tritt, sieht er, dass der ganze Körper von Jesus aus kleinen Quadraten mit aufgedruckten „Busennippeln“ besteht, große und kleine, weiße und schwarze, ausgeschnitten aus Pornoheften. Soll das Kunst sein? Ist Nick Hornbys „NippleJesus“ tatsächlich anstößig?…

München – „Die Freiheit einer Frau“ – Felicitas Bruckers spannende Inszenierung nach dem Roman von Édouard Louis in den Kammerspielen

Édouard Louis "Die Freiheit der Frau" in den Münchner Kammerspielen präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

Aus einer Person werden drei. Im fliegenden Wechsel spielen drei SchauspielerInnen Édouard Louis’ Erinnerungen an sein Leben in proletarischen Verhältnissen, gleichzeitig die frustrierte Mutter, die sich fünf Kinder von zwei groben, trunksüchtigen Männern machen ließ, und den Édouard Louis‘ Vater, dessen Arbeitsunfall die Familie von der Armut ins Elend stürzt. Die kurz darauf erlassenen staatlichen Renten- und Medikamentenkürzungen weiten die häusliche Problematik auf die Klassendiskrimierung der französischen Politik, die arbeitsunfähige Menschen als Taugenichtse degradiert und in den Tod treibt.
Die Dramatisierung autofiktionaler Romane auf der Bühne ist zur Zeit en vogue und wurde durch die Nobelpreisverleihung an Annie Ernaux befeuert. Viele Zuschauer reagieren begeistert, weil es sich in den Thematiken wiederfinden. Dass „Die Freiheit einer Frau“ in den Kammerspielen so funkt, liegt an Felicitas Bruckers spannendem Regiekonzept…

Berlin – „Champions Poetry Slam“ in der Philharmonie

Champions Slam in der Berliner Philharmonie präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

Der Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie war ausverkauft. 1000 vorwiegend junge Gäste, darunter ganze Schulklassen ließen sich von Moderator Ortwin Bader-Iskraut schnell auf Hochfrequenz-Applaus animieren, was beim Champions Poetry Slam 2023 für showmäßige Applaushysterie sorgte, denn das Reglement schreibt einen respektvollen Umgang des Publikums mit den KünstlerInnen vor, mit viel Applaus ohne Buhs. Die Teilnehmer das zeitliche Limit von maximal 10 Minuten einhalten und ihre Texte ohne Kostüme und Requisiten, ohne Musik und Gesang vortragen. 

Landshut – Brechts „Leben des Galilei“ im Landestheater Niederbayern

Theaterkritik Brechts "Leben des Galilei" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

Ein Hingucker vom ersten Moment an ist Wolfgang Maria Bauers und Aylin Kaips Inszenierung von Bertolt Brechts Schauspiel „Leben des Galilei“. Aylin Kaips gigantische Ringstrukturen vor projiziertem Sternenhimmel schaffen eine faszinierende Bühnenatmosphäre. Hochkant gestellt spiegeln sie das alte Ptolemäische Weltbild des Aristoteles, waagrecht zerlegt, eingepfercht darin die Menschen die Enge des Denkens, übereinander geschichtet die Dominanz hierarchischer Macht. Schemenhaft treten die Figuren aus dem Kosmos und gewinnen unter Bauers präziser Personenregie schnell eine markante Plastizität. In langen wallenden, morbid zerknitterten Gewändern, die uralten Eminenzen bleich geschminkt mit überspitzten Mitras wirken sie zuweilen wie Untote, die uns wieder heimsuchen. Brechts „Galilei“ hat nichts von seiner Aktualität verloren…