München – Henrik Ibsens „Peer Gynt“ als psychologische Analyse im cinematischen Großformat im Residenztheater

Theaterkritik "Peer Gynt" im Residenztheater präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Residenztheater, Foto: Sandra Then

Bewusst unspektakulär beginnt das große Weltenspiel als Sprechprobe der ersten Szene, in der sich nicht nur Peer Gynt als Lügner offeriert, sondern gleichzeitig Ibsens gewöhnungsbedürftige Sprache mit kalauerartigen Paar- und Kreuzreimen. Nahtlos auf der Bühne in markanten Kostümen (Eleonore Carrière) gespielt, gewinnt das alberne Pathos schnell dramatische Dynamik mit Raum für witzige Passagen. Nach Gynts Identität fragt Ibsen. Regisseur Baumgarten interessiert, warum ist Gynt, wie er ist. Aus diesen zwei verschiedenen Perspektiven entwickelt sich Peer Gynts gestörtes Psychogramm. Max Rothardt interpretiert ihn als gar nicht so unsympathischen Flower-Power-Typ, in knalligen Rottönen mit großem Ego immer im Mittelpunkt, weniger ein Enfant Terrible als ein Missverstandener. Das Warum erklärt Lukas Rüppel als Psychotherapeut bühnengroß in Schwarz-Weiß-Dokumentations-Format immer wieder eingeblendet. Völliger Empathiemangel angesichts der Traumata aus Sozialisation, Narzissmus und Libido lautet die Diagnose, woraus sich gleichzeitig das ausgestellte Spiel erklärt. Gefühle sind hier deplatziert, man hört sie nur durch die abgründigen E-Gitarrenriffs, die Komponist Marc Sinan selbst live auf der Bühne spielt, durch die wuchtigen Trommelperkussionen und die subtilen Klangspiele dazwischen. 

Carolin Conrad liefert als dominante, lieblose und selbstsüchtige Mutter eine Steilvorlage für  Gynts Defizite. Er soll wieder aufbauen, was der Vater durch Alkoholismus heruntergewirtschaftet hat, reich heiraten und etwas darstellen. So wird nachvollziehbar, dass Gynt ausbricht. Wie ein Kind will er Kaiser werden, nur das tun, was er will, womit er das Mainstreammodell unserer Zeit verkörpert. Er lebt rücksichtslos alle Begierden aus, ohne menschliche Beziehungen aufbauen zu können. Dazu fehlt ihm schlichtweg jegliche Empathie. Sein Leben wird zur Achterbahn zwischen Erfolg und Absturz, gelenkt vom Zufall, nicht durch Leistung. Peer Gynt ist unfähig aus seinen Erfahrungen zu lernen, ein Typ, um den keiner trauert. 

Aus Ibsens trister Biografie eines „Vogelfreien“ macht Sebastian Baumgarten ein quirlig ausgestelltes Spiel zwischen comicartiger Slapstickoptik und Simsalabim-Zaubertechnik, das keinerlei Emotionalisierung zulässt. Ein Schnalzen, eine abrupte Handbewegung und schon blitzt und kracht es wie in einer Rätselshow, knallen die Figuren auf den Boden, fährt die Toilette mit der entführten Braut bühnenabwärts, um etwas später mit der entjungferten wieder aufzutauchen. Die Begegnung mit den Trollen wird zur gruseligen Groteske. Kaiser dieses Reichs will Gynt nicht werden, weder „Kacke“ trinken noch sich die Augen ausstechen lassen, um die Welt nur noch aus der Perspektive der Trolle sehen zu können. Er flieht, um seine Freiheit zu behalten, nimmt aber den Leitspruch der Trolle mit, sich selbst genug zu sein. In einer Waschszene analog zum Narziss-Mythos flieht der junge Gynt sogar vor dem eigenen gespiegelten Alter Ego (Florian von Manteuffel). Immer auf der Suche nach seiner Identität, findet er sie nicht. Er ist wie eine Zwiebel ohne Kern und wird zum Gefangenen seiner selbst, der unverwundbar zu sein scheint und doch so viele Wunden hat. Nicht einmal zu seiner Idealfrau Solvejg, die ihn zunächst abweist, dann begehrt, kann er eine Beziehung aufbauen. Er träumt sich lieber anderswohin, will in der Welt sein Glück finden. 

Nach der Pause spielt Florian von Manteuffel Peer Gynt als großzügigen Kapitalisten. Er fliegt über den Wolken, landet im Irrenhaus, wo er endlich Kaiser wird, die tiefgründigste Szene des Abends. Der Psychotherapeut degradiert zu Gynts subalternem Diener, eine erheiternde Lachnummer, nicht minder die Marotten der Irren als Persiflagen des Sich-selbst-genügens, worüber sich Gynt amüsiert, ohne seine eigene Rolle in diesem Spiel zu durchschauen. Er will wieder zurück in die Heimat, überlebt den Untergang des Schiffes bei stürmischer See, verliert dabei sein ganzes Vermögen und findet im Gegenzug seinen Kinderglauben an Gott, der auf Klatschzeichen Hilfe in höchster Not gewährt. Vor Ort tauchen Erinnerungen auf. Wie eine Fata Morgana spaziert der junge Gynt mit Solvejg glücklich vorbei. Dem alten Gynt ist der Knopfgießer, in tänzersicher Leichtigkeit von Lea Ruckpaul gespielt, mit seiner riesengroßen Kelle auf den Fersen. Gynt stirbt im Gegensatz zum literarischen Original einsam, ohne seine wahre Identität und Bestimmung als Mensch gefunden zu haben. Solvejg bringt an seiner Stelle die Botschaft des Abends, ein Text von Lea Ruckpaul,  in ihrer Rede an das Publikum auf den Punkt. Der Mensch bedarf des Menschen. Menschsein ist die Hinwendung zum anderen. 

Peer Gynt, von Ibsen als ganz neuer Typ eines Antihelden konzipiert, hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt, zumal Lena Newton (Bühne), Gerrit Jurda (Licht) und Philipp Haupt (Video) spannende Bühnenlösungen präsentieren. Durch einen ornamentalen Videorahmen wird das Bühnengeschehen zum Screening, vom Bildschirmflimmern umrauscht, das sich zuweilen zu großflächigen Bildstörungen aufbaut. Während der Weltenfahrt im zweiten Teil suggeriert der cinematische Rahmen den Flug hoch über den Wolken…

Theaterkritik "Peer Gynt" im Residenztheater präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Residenztheater, Foto: Sandra Then

…dann den Kampf gegen heftigen Sturm. Zwischendurch bringen  Schwarz-Weiß-Videos die Trostlosigkeit industrieller Ausbeutung im Sinne von Ibsens Kapitalismuskritik ein und zurück in Norwegen wird eine unermüdliche Erdölpumpe zur Symbolik von Schnitter Tod bzw. menschlicher Ausbeutung. Chapeau! Atmosphärische Rasanz und Live-Erlebnis auf der Bühne fusionieren gekonnt. In diesen wuchtigen Szenen verliert der Mensch an sich seine Bedeutung und die existentiellen Fragen treten in den Vordergrund. Das ist insgesamt eine anspruchsvolle Inszenierung. Doch durch die überzogene, sehr typenhaft exaltierte Personenregie berührt sie wenig. Nur Vassilissa Reznikoff darf in der Rolle der Solvejg poetische Akzente setzen. Man wünschte sich mehr Momente derartigen schauspielerischen Feinschliffs.

Künstlerisches Team: Sebastian Baumgarten (Regie), Lena Newton (Bühne), Eleonore Carrière (Kostüme), Marc Sinan (Komposition und musikalische Leitung), Gerrit Jurda (Licht), Philipp Haupt (Video), Constanze Kargl (Dramaturgie), Ilija Đorđević (Sound Design and Sonic Interaction)

Mit: Carolin Conrad, Max Rothbart, Florian von Manteuffel, Lea Ruckpaul, Simon Zagermann, Vassilissa Reznikoff, Vincent Glander, Isabell Antonia Höckel, Lukas Rüppel, Marc Sinan, Hans Könnecke.