Berlin – Annie Ernaux’ „Erinnerungen eines Mädchens“ in der Schaubühne

Theaterkritik "Erinnerungen eines Mädchens" an der Berliner Schaubühne präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Gianmarco Bresadola

Mit „Erinnerungen eines Mädchens“ als Rückblick auf das Jahr 1958 trifft Annie Ernaux lange vor der MeToo-Bewegung in das Zentrum männlicher Dominanz. Lustbefriedigung steht ganz oben, ohne Gefühl für die Frau, die zu tun hat, was man ihr sagt. Männer suchen sich junge, unerfahrene Mädchen, die zu naiv sind, sich zu wehren, ihre eigenen Vorstellungen von Sexualität zu formulieren, weil sie sie noch gar nicht kennen.

Schauspielerin Veronika Bachfischer erzählt zunächst von sich persönlich und nähert sich von außen auf die Protagonistin, die sie spielen soll, deren Foto, Annie Ernaux‘ bekanntes Buchcover-Porträt, sie auf die Spiegelfläche klebt.

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©Bibliothek Suhrkamp

Mittels einer Perücke wandelt sich Veronika Bachfischer im Handumdrehen in die junge Annie Ernaux. „Das Mädchen ist nicht ich, aber in ihr von realer Präsenz.“ Spiegelschranktüren, Tisch und Stühle genügen Raumatmosphären zwischen Zimmer und Disco, Enge und Weite eines wilden Ferienlagers voller „Begehren, Stolz und Idiotie“ assoziieren zu lassen. Seine abgelehnte Liebesbereitschaft kompensiert es mit anderen Jungs, die bald über das Mädchen lästern und als Nutte abstempeln.

Unter der Regie von Sarah Kohm weitet sich Annie Ernaux’ Monolog einer individuell erlebten Liebesgeschichte ganz im Sinne der Autorin zu einem gesellschaftlichen Spiegelbild, in dem Sozialisation und kollektive Rollenklischees das eigene Leben verfremden und massiv beeinträchtigen. Frau „tut, was er will“, stellt ihren Körper zur Verfügung, um ihn an sich zu binden. Er geht andere Wege und sie kämpft sich durch das Leben immer gemessen an männlichen Bewertungskriterien. 55 Jahre brauchte Annie Ernaux, sich zu ihren „Erinnerungen eines Mädchens“ öffentlich zu bekennen.

Trotz aller Ausgestelltheit sehr authentisch schlägt Veronika Bachfischer den Bogen von Annie Ernaux‘ nüchtern, analytischer Beschreibung sexueller Dinge, von denen man früher eben nicht sprach, zu der unbändigen Lebenslust dieses Mädchens zwischen Euphorie und rationalem Erkennen.

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©Gianmarco Bresadola

Am Schluss nimmt Veronika Bachfischer die Perücke wieder ab. „Sie ist ich und ich bin sie,“ bekennt sie. Hat sich tatsächlich so wenig geändert in den letzten Jahrzehnten? Eine Diskussion mit jungen Frauen im Anschluss wäre interessant. 

Künstlerisches Team: Sarah Kohm (Regie), Lena Marie Erich (Bühne, Kostüme), Elisa Leroy (Dramaturgie)