Elfriede Jelinek „Die Sprache von der Leine lassen“

Filmkritik Elfriede Jelinek „Die Sprache von der Leine lassen“ präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©CALA Filmproduktion

Elfriede Jelinek gilt als Enfant terrible der österreichischen Literaturszene, immer kritisch, immer aufmüpfig, knallhart in komplexen Satzstrukturen, sich zu einem wuchtigen, kunstvoll rhythmisierten Sprachstrom verdichtend, der volle Konzentration erfordert. Ihre Texte sind  alles andere als leichte Kost. Doch gerade für den „musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen“, so die Jury, wurde ihr 2004 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt. 

Über 50 Interviews und Filmsequenzen collagierte Regisseurin Claudia Müller zu einer außerordentlich gelungenen Hommage an die Wortkünstlerin. Der Titel „Die Sprache von der Leine lassen“ deutet bereits den Spagat zwischen Rätselhaftigkeit  und Alltäglichkeit an, der sich von der Kindheit bis zum Nobelpreis erstreckt. Nach der umstrittenen Preisverleihung hat sich Elfriede Jelinek vollkommen zurückgezogen, aber nach wie vor intensiv gearbeitet. Insofern zielt der Titel auch auf die medialen Kampagnen gegen sie. 18 Jahre früher gedreht, hätte der Film viel dazu beigetragen das Image dieser außerordentlich begabten Frau als bloße Nestbeschmutzerin zu korrigieren…

Der Film erklärt, warum Elfriede Jelinek ist, wie sie ist, warum sie die Welt, insbesondere Österreich und Wien, wo sie aufwuchs, so kritisch sieht, warum sie immer noch an einer unüberwindbaren Reiseangst leidet und extrem zurückgezogen lebt.

Das große Manko im Leben Elfriede Jelineks war die Mutter mit ihrem Ehrgeiz aus dem einzigen Kind, 1946 geboren, einen Musikstar zu machen. Mit drei Jahren musste das kleine Mädchen bereits ins Ballett, dann Klavier und Geige lernen, mit 14 Jahren zusätzlich noch Orgel, Flöte und Komposition. Von 6 Uhr morgens bis 10 Uhr abends reichte der tägliche Stundenplan überwacht, beurteilt und bestraft von der Mutter, die zugleich „Inquisition und Urteilsvollzieherin“ war. Da blieb keine Zeit sich mit Freunden zu treffen, Partys zu feiern. „Ich bin allerdings die Einzige in meiner Nähe“, konstatiert Elfriede Jelinek sehr sachlich. Der jüdische Vater, mit dem sie eine Seelenverwandtschaft verband, hatte auf den Erziehungsstil der katholischen Mutter keinerlei Einfluss. Er starb im Irrenhaus. Für Elfriede Jelinek war er „ein Gott“ gewesen. 

In der Klosterschule lernte Elfriede Jelinek den Kapitalismus kennen. Kinder von reichen Eltern waren nicht nur dicker, weil sie mehr zu essen bekamen, sondern wurden auch privilegierter behandelt. Sie wurde ausgegrenzt, gedemütigt und wie es ihre Mutter wünschte, war sie in jeder Beziehung die Ausnahme von der Regel. Das Schreiben rettete sie und ermöglichte ihr eine eigenständige Existenz.

Schon als Kind begann Elfriede Jelinek Geschichten zu erfinden. Es waren Lügengeschichten, um die Mutter zu besänftigen. Später merkte sie, dass Autoren nicht fabulieren sollten, sondern sich Wissen aneignen müssen, um über das Wesentliche, das Verschwiegene  schreiben zu können. Mit ihren ersten heimlich eingereichten Texten gewann sie bereits einen Lyrik- und einen Prosapreis. 

Ihre Texte kommen im Film durch Klaviermusik untermalt vor winterstrahlenden Gebirgslandschaften bestens zur Wirkung und zielen auf persönliche und gesellschaftliche Eisregionen. Sehr subtil werden sie von Sandra Hüller, Maren Kroymann, Stefanie Reinsperger, Ilse Ritter, Sophie Rois und Martin Wuttke, allesamt überaus renommierte SchauspielerInnen, rezitiert. Die kurzen Textsequenzen lassen Jelineks ganz speziellen Sprachfluss aufleuchten, ohne zu überfordern und geben ihr, längst ist ihr Nachnahme ein Label, eine sehr sympathische Aura, gerade im Kontrast zu ihren ehemaligen Kontrahenten, dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und FPÖ-Chef Jörg Haider, der gegen sie agitatorisch hetzte. „Liebt ihr Jelinek, oder Kunst und Kultur?“ Seinen rechtsradikalen Populismus prangert sie genauso an wie die Haltung der Österreicher im Nationalsozialimus oder die Klimaproblematik. Jelinek empfindet es als „Pflicht nicht zu schweigen“.

Welche Kraft Jelinek entwickeln konnte, zeigt eine Dokumentation ihres einzigen Auftritts im Theater. Es war eine sehr kurze, sehr selbstbewusste Szene bei der bejubelten Uraufführung von ihrem „Sportstück“ im Wiener Burgtheater 1998 unter der Regie von Einar Schleef.

Aus den Dokumentationssequenzen entwickelt sich ein facettenreiches Jelinek-Puzzle, eine attraktive, intellektuelle Frau, die genau weiß, was sie will, bescheiden und sehr selbstkritisch und um die Lächerlichkeit der Existenz weiß. Der Film macht neugierig auf ihr neues autobiografisches Buch „Angabe der Person“. 

Künstlerisches Team: Claudia Müller (Regie, Drehbuch), Christine A. Maier (Bildgestaltung), Mechthild Barth (Montage), Eva Jantschitsch (Komposition), Johannes Schmelzer-Ziringer (Tonmeister & Sounddesign), Brigitte Landes (Dramaturgische Beratung bei der Textauswahl)