"Kultur macht glücklich"


Samira El Ouassil, Friedemann Karig „Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen“ 

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Samira El Ouassil, Friedemann Karig „Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen“ 
©Ullstein Verlag
In zwölf Kapiteln quer durch unsere Kulturgeschichte breiten Samira El Ouassil und Friedemann Karig die Narrative auf, die uns ständig beeinflussen. Die Heldengeschichten von der Antike bis zur Sciencefiction gleichen einander. Ein Mensch lebt in seinem gewohnten Umfeld, als er plötzlich den Lockruf der Fremde hört, zunächst zögert, dann doch die Herausforderung annimmt und sich, von einem Mentor gefördert, hinaus die Welt der Abendteuer wagt, Freunde und Feinde einzuschätzen lernt, in die Dunkelheit größter Gefahr gerät, aus der er heldenhaft als Sieger hervorgeht.
Die beide AutorInnen erklären in einem Crashkurs durch dramaturgische Strukturen, wie die sechs erfolgreichsten Storyboards und Masterplots funktionieren. Sie geben dem Leser damit ein analytisches Handwerkzeug zur Hand, besser zu verstehen, wie Geschichten das eigene Denken manipulieren und welche Rolle wir selbst in diesen Geschichten spielen. Am beliebtesten und damit erfolgreichsten ist immer noch das Muster vom Tellerwäscher zum Millionär.
Als einzige Rasse kann der Mensch über sein Schicksal nachdenken, sich selbst zum Helden stilisieren, vom Spielball des Schicksals sich zum Spieler seines Glücks machen, indem er Kausalitäten zu durchschauen und zu beeinflussen lernt. Helden überleben, erzählen ihre Geschichten, wodurch andere in ähnlichen Lagen hilfreiche Verhaltensmuster in Gefahrensituationen haben, was im Laufe der Evolution eine wichtige Rolle spielte. Jede Generation gab über die Geschichten ein „anthropologisches Upgrade“ weiter. Scheherazade ist das älteste Beispiel.
Der „homo narrans“, der erzählende Mensch, bzw. „pan (Affe) narrans“ bezog ursprünglich seine Ausdrucksweise auf den realen Alltag, um zu überlegen. Dass manche Menschen beim Lügen rot werden, stammt aus jener Zeit absolut wahrheitsorientierter Kommunikation. Zu lügen hätte das Leben gekostet. Im Laufe der Zeit begann man über fiktives Erzählen zu erklären, warum Menschen starben oder nicht mehr in den Stammesverband zurückkehrten. Es entstanden regelrechte Anleitungen richtigen Verhaltens.
Sehr verständlich erklären El Ouassil und Karig, was im Gehirn beim Lesen von Geschichten passiert. Je nach Story erzeugen sie einen regelrechten Drogencocktail durch Ausschütten von Cortisol, das Spannung, Angst, Aufmerksamkeit erzeugt, die Glückshormone Dopamin und Endorphin und Oxytocin, das Empathie steigert. Dabei werden Synapsen neu verknüpft und in eine Art „Virtual Reality entführt. Die Identifikation mit den HeldInnen, bislang waren es allerdings vorwiegend Helden, stärkt bereits von Klein auf die Selbsteinschätzung.
Mit der Zeit entwickelt sich ein neurales Geschichtennetz im Kopf, nach deren adaptierten Mustern neue Narrative interpretiert werden. Je nach Identifikationsgrad werden wir Teil dieser Geschichten und letztendlich bleibt von jedem Menschen am Lebensende nichts als eine Geschichte. Wie diese rezipiert wird, hängt wiederum vom sozialen Umfeld ab. „Das Selbst ist also nur eine Geschichte, die ich mir über mich selbst erzähle, weil ich sie durch andere erfahren habe“.
Diese Tendenz wird durch narzistische Selbstbespiegelung mittels verschiedener Identifikationen via Selfies enorm intensiviert. Das eigene Leben wird zur Story. Die medialen Möglichkeiten initiieren einen hypochondrischen Individualismus, der durch Gruppenzugehörigkeit über Like- und Dislike-Bekundungen extrem lanciert wird.
Sehr überzeugend stellen die beiden AutorInnen die „narrativische Kriegsführung“ der US-amerikanischen Propaganda dar. Unter dem neutralen Begriff „Public Relation“ entwickelte man Narrative nach dem Heldenschema, die nicht die Wahrheit, sondern Halbwahrheiten aufzeigten, um die Massen politisch zu manipulieren. Das Narrativ der USA als Retter der Welt vom Kommunismus tarnte in Wirklichkeit den US-amerikanischen Marktimperialismus zur Gewinnmaximierung. Als Beispiel dient der Vietnamkrieg, indem alle Fakten, die das Narrativ der westlichen Vorherrschaft fragwürdig erschienen ließen, ignoriert wurden. Erzählt wurde, was geglaubt werden sollte. Trotz wissenschaftlicher Beweise wurden Themen wie Schädlichkeit des Rauchens, Ozonloch, Klimawandel durch lancierte Gegengeschichten bagatellisiert und so außer Gefecht setzt. In diesem System wird der Mensch nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip auf den homo oeconomicus reduziert, obwohl wir längst wissen, dass dieses Menschenbild falsch ist. Daraus entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein radikales marktwirtschaftliches Erfolgsnarrativ, in dem der „böse“ Staat sich möglichst gar nicht mehr einmischen sollte, auch wenn diese wirtschaftliche Entwicklung die Schere zwischen Arm und Reich extrem vergrößerte und die Grundlagen unserer Existenz immer stärker zerstört. Wirtschaftsgläubigkeit wurde zur neuen Ideologie, löste die Religion ab. Götter waren schon in der Antike unzuverlässig. Das monetäre System erwies sich für eine gewisse Zeit zuverlässiger.
Shakespeare verhandelte noch die großen Themen von Liebe und Macht. Seine Charaktere waren aber schon sehr aufgeklärt angelegt, weder nur gut noch nur böse. Sein „Hamlet“ zeigt bereits eine ungewöhnliche Ambiguitätstoleranz, Fähigkeit Widersprüche zu ertragen. Shakespeares Figuren scheitern als charismatische Helden und werden durch kompromissfähige moderne Pragmatiker ersetzt. In seinen Komödien finden die Frauen mit Witz rationale Lösungen.
Später wurden die Geschichten sehr stark als Schwarz-Weiß-Zeichnungen für bewusstes Manipulieren der Volksmeinung verbreitet. Man schürte die Angst, um das System der Könige und der Kirche zu festigen. Auftragshistoriker beschrieben Sklavenhändler als Helden im Dienste der Menschheit, indem sie die Schwarzen kollektiv zu wilden Tieren degradierten, durch ihre Christianisierung der Menschheit eine Wohltat erwiesen und damit die Basis für jahrhundertelangen Rassismus zugunsten der europäischen weißen Rasse schufen. Ähnlich funktionierte die Diskriminierung der Juden, denen immer wieder in den Narrativen Jesusmord vorgeworfen wurde, um sie in eine verhasste Außenseiterrolle zu drängen. Jesus wurde aber nach römischem Recht gerichtet.
In der Meritokratie ging man davon aus, dass der Mensch sich Ansehen und Macht verdient. Narrative spiegeln vor, dass man verdient hat, was man ist, ohne zu hinterfragen, ob das wirklich stimmt und die Basis geerbte Privilegien sind, die andere eben nicht haben.
Sehr wichtig sind Narrative für „Die ewige Verführung von rechts“. Sie gelingt durch die Verbreitung apokalyptischer Verschwörungsgeschichten inklusive Heilslehre. Jeder ist ein außerordentliches Individuum über allen natürlich der Führer. Faschisten sehen sich als Elite, die als einzige das bedrohliche Umfeld retten kann. Innerhalb der Gruppe werden die Schwachen, meist die Frauen unterdrückt. Über Symbole aus unterschiedlichen Kulturen will man die faschistische Bewegung historisch aufwerten. Allerdings geht der Faschismus im Gegensatz zur Heldensage nie mit einem persönlichen Lernprozess und inneren Wandel einher. Der Fehler liegt immer bei den anderen. Unter Hitler wurden die Juden zum antagonistischen Sündenbock. Je schlimmer die Juden, desto heldischer die Nazis. Die eigenen Ängste, Obsessionen, Frustrationen und Neurosen wurden auf die Juden projiziert. Wer tötete, war Sieger, ein Held. Rechtsradikalismus gab es immer. Er wurde mythologisch aufgeladen und ästhetisiert. Mit über 30000 Lügen erhob Trump während seiner Amtszeit, seine Sicht zur allgemeinen Wahrheit, um sich unangreifbar zu machen. Autokraten wie Trump, Putin, Bolsonaro und Erdogan „machen sich die Wirklichkeit durch ihre Sprache untertan“. Sie entwickeln alternative, der Wirklichkeit widersprechende Narrative, sogenannte Verschwörungstheorien, um als Ingroup die Outgroup unglaubwürdig zu machen. Dazu gehört auch die Projizierung einer idealisierten Vergangenheit, die keinerlei andere Narrative zulässt. Faschistoide Narrative werden filmisch wie in „Matrix“ oder videotechnisch attraktiv aufgeladen. Dieser narrative Manipulierungsprozess gewinnt durch  YouTube eine ungewöhnliche Rasanz. Über 30 Millionen Follower hatten Bolsonaros manipulierende Videobotschaften.
„Wir sind, was wir glauben zu sein“, erklären El Ouassil und Karig. Beide ziehen ein ganz klares Resümee. Wir brauchen neue Narrative, in denen nicht der einzelne Held einsam kämpft, sondern kollektiv über soziale Beziehungen das Gute siegt, Geschichten, die die alten Geschlechtertypisierungen über Bord werfen, hedonistisches Verhalten durch den Flow des eigenen Gestaltens ersetzen, statt monokausaler Storys komplexe Narrative mit Ambiguitätsambivalenz. „Gesünderes Wirtschaften muss eine Frage der Ehre werden“, ein „egalitäres Wohlwollen“ gegenüber anderen Menschen. Mittels der Transformationskraft neuer Narrative können wir die Welt verändern.
Wie weit Mächtige davon entfernt sind, wie manipulativ Narrative verwendet werden, macht derzeit die Ukraine-Krise deutlich.
Buchrezension "Erzählende Affen" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de
©Ullstein Verlag
Samira El Ouassil, Friedemann Karig „Erzählende Affen“, Ullstein Verlag, Berlin 2021, 522 S.