©Landestheater Niederbayern, Foto: Peter Litvai
Alban Bergs „Lulu“ ist der Inbegriff der Verführung, Spiegelbild männlicher Weiblichkeitsprojektionen. Wie sie sich dabei fühlt, interessiert die Männer nicht. Das Thema ist auch heute noch on top und wird durch die brasilianische Sopranistin Natasha Sallès…
zu einem ganz besonderen Opernerlebnis in der intimen Atmosphäre des Fürstbischöflichen Opernhauses in Passau, nur möglich weil sich Generalmusikdirektor Basil H. E. Coleman statt für Alban Bergs großes Opernwerk für die reduzierte Orchesterfassung Eberhard Klokes entschied. Umso effektvoller kommen die SängerInnen zur Wirkung. Optisch, stimmlich und schauspielerisch wird Sallès zum Fixpunkt der Inszenierung. Die Bühne zwischen Rummelplatz und Varieté, großbürgerlichem Wohnraum und billiger Absteige chargierend markiert Lulus Aufstieg und Niedergang.
Um seinen gesellschaftlichen Status nicht zu gefährden verheiratet der Zeitungsverleger Dr. Schön Lulu, seine Geliebte. Der erste Mann stirbt, als er sie in flagranti erwischt, der zweite begeht Selbstmord, der dritte, Dr. Schön selbst, den Lulu immer heiraten wollte, zwingt sie zum Selbstmord, doch der Schuss trifft ihn. Lulu kommt ins Gefängnis, durch die Fluchthilfe der lesbischen Gräfin Geschwitz (Reinhild Buchmayer) zwar wieder frei, landet aber durch ihre ausbeuterischen Liebhaber in der Gosse, wo sie von Jack the Ripper erstochen wird.
Sallès funkelt in jedem Ambiente und Regisseur Stefan Tilch weiß das über Lulus ständige Rollenwechsel im Stil der 1920er Jahre sehr gekonnt in Szene zu setzen und gleichzeitig die psychologischen Tiefenstrukturen zu offerieren. Wie ein Anziehpüppchen lässt er Sallès die Kleider wechseln, die schon griffbereit an der Wand hängen, oder platziert sie einfach hinter bemalte Kleiderattrappen aus Pappe, um die Sehnsüchte der Männer zu befriedigen. Sallès überzeugt als Mädchenfrau, Grande Dame und Flittchen, Marionette und verletzte Seele. Mit ihren großen Augen, ihrem ernsten durchdringenden Blick und ihrer fulminanten Sopranstimme, zieht sie alle in den Bann. Völlig unangestrengt werden Bergs extreme Tonlinien, exorbitante Höhen und Klangsprünge zum Ausdruck ihrer psychischen Qual infolge permanenter Verdinglichung und automatisierten Handlungszwangs.
Nicht nur Lulu leidet, auch ihre Verführer, die sie nicht für sich vereinnahmen können, allesamt sehr engagiert vom Ensemble interpretiert. Bariton Peter Tilch meistert mühelos die schwierige Partie des Dr. Schön und verleiht ihm eine Aura, die Lulus Zuneigung zu Dr. Schön nachvollziehbar macht. Erotische Glücksgefühle erlebt Lulu allerdings nur mit dessen Sohn Alwa (Edward Leach).
Stefan Tilch unterstreicht die düsteren Seiten in Lulus Leben, indem er die instrumentalen Zwischenspiele zu psychotischen Alpträumen verdichtet, in denen die toten Ehemänner wieder erwachen und Lulu malträtieren. Sie wird zum Opfer testosterongesteuerter Willkür, die der grobschlächtige Athlet und der alte zwielichtige Schigolch, Vaterfigur- und Zuhälter zugleich, in Lulus Endphase noch verstärken.
Klanginferno schallt auch aus dem Orchestergraben. Unter Colemans Leitung trumpfen Bergs zwölftonige Klangreihen in immer neuen Klangmustern auf, ohne dass die Balance zu den SängerInnen verloren geht. Jedes Instrument färbt das Chaos anders ein. Zusammen formieren sie rasante Tonreihen und sphärische Flächen, für Nicht-Experten der Zwölftonmusik konzeptionell kaum durchschaubar, nur atmosphärisch wahrnehmbar und für etliche Ohren von quälender Stringenz. Doch genau das ist die Essenz von „Lulu“. Ein anstrengender, aber überaus bereichernder Opernabend!
Künstlerisches Team: Basil H. E. Coleman (Musikalische Leitung), Stefan Tilch (Inszenierung), Philip Ronald Daniels, Charles Cusick Smith (Ausstattung), Sunny Prasch (Choreografie)
Mit: Natasha Sallès (Lulu), Reinhild Buchmayer (Gräfin Geschwitz), Roman Pichler (Maler, Prinz, Freier), Peter Tilch (Dr. Schön/Jack) Edward Leach (Alwa), Albin Ahl (Tierbändiger, Athlet), Stefan Stoll (Schigolch), Sabine Noack (Garderobiere, Gymnasiast), Stefan Metzger (August/ Kammerdiener), Franziskus Rohmert (Medizinalrat, Theaterdirektor, Professor), der Niederbayerischen Philharmonie und der Statisterie des Landestheater Niederbayern