München – Ballett „Sphären“ – vier choreografische Handschriften getanzt vom Münchner Staatsballett 

Tanzkritik "Sphären" vom Münchner Staatsballett präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de.

Marco Goeckes „All Long dem Day“, Soren Sakadales  ©Bayerisches Staatsballett, Foto: Nicholas MacKay

Als energetisches Feuerwerk entpuppte sich Marco Goeckes „All Long dem Day“. Zwölf TänzerInnen verwandelten sich mit vibrierenden Armschlägen, Flatterhänden, Stechschritte, auf Spitze und abrupte Sprünge regelrecht in vibrierende, balzende Vögel zur Musik von Nina Simones „Sinnerman“. Jedes Klacken, Klatschen im rasanten Contratiempo setzten die TänzerInnen in rasanten Bewegungsexplosionen um und vermittelten damit wie die Musik „Oh yeah“ die tiefe Emotionalität endorphinisierten Lebensgefühls, das sich unmittelbar auf die Zuschauer übertrug, die bei der besuchten zweiten Vorstellung vor Begeisterung jubelten.

Dazu kontrastierte wunderbar Nicolas Pauls „L’éternite immobile“, eine Choreografie über die Zeit. Nach John Taveners Komposition „The Hidden Face“ enthüllten acht Tänzerinnen in grauen Hosen und Hemden als Pulk meditativ auf dem Boden liegend durch Slow Movements und ständig ausbrechende individuelle Bewegungen zwischen gekrümmten Verdrehungen, energetischen Aufrichtungen und explosiver Geschwindigkeitsdynamik den hektischen Puls der Zeit, mehr noch durch die vielfach projizierten Schatten ihrer Bewegungen und zuweilen überdimensionale Vergrößerungen die Macht der Zeit und zugleich die Synchronität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Tanzkritik "Sphären" vom Münchner Staatsballett präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de.

Nicolas Pauls „L’éternite immobile“©Bayerisches Staatsballett, Foto: Nicholas MacKay

Fran Diaz’ theoretischer Ansatz in „The Habit“ ist an sich sehr interessant. Inspiriert von Filmen wie „Ordet“ (Karl Theodor Dreyer, 1955) und „Essene“ (Frederick Wiseman 1972) hinterfragt er Glaube und Glauben im Rahmen von Institutionen, den Konflikt zwischen individuellen Bedürfnissen und institutionellen Ansprüchen und darüber hinaus die Macht von Gewohnheiten. Über die experimentelle Musik von Ben Vince und Cucina Povera drängt sich der Transfer zur Clubkultur auf, in deren Bann die TänzerInnen wie fremdgesteuert agieren, in weißen Hosen und weiß transparenten Hemden ihre Individualität verlieren, zunehmend von Bassschwingungen angetrieben, die man selbst als Zuschauer 25 Minuten lang auszuhalten hat. Es ist weniger wie im Programmheft angekündigt ein Fiebertraum, als vielmehr ein Endlosloop. Tänzerisch wird die starke Affinität zu Marco Goecke sichtbar, unter dessen Leitung Fran Diaz in Hannover tanzte, bevor er selbst ins Choreografiefach wechselte.

Witzig, tänzerisch, choreografisch in Line-Chorus-Optik, in Sportoutfit mit Sonnenbrille bewusst simpel und satirisch ausgerichtet endorphinisiert zum Abschluss Marion Motins „Le Grand Sot“ (Der große Trottel) nach Ravels „Boléro“ das Publikum noch einmal. Schon das erste Pokreisen einer sportiven Tänzerin signalisiert den Parodiecharakter, der sich in synchronen Bewegungen von 12 TänzerInnen wie die Musik ständig wiederholt und immer ausladender wird und schräger wirkt, weniger in eine ekstatische Trance  versetzt als zu einer parodistischen Leidenstour mutiert und umso mehr das tänzerischen Können in den anderen Choreografien hervorhebt. Marco Goecke, wochenlang wegen des Hundekot-Skandals am Prager der Öffentlichkeit, zeigt einmal mehr sein Können für konzeptionell spannende und witzig zusammengestellte Programme zeitgenössischen Balletts.