©Etienne Lerbret
Entlang von Rachel Joyces Roman „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“, von der Autorin selbst und Hettie MacDonald in ein Filmdrehbuch verwandelt, erfährt der Zuschauer Schritt für Schritt die wahren Motive dieses scheinbar unsinnigen Unternehmens. Wie bei jeder Pilgerreise tauchen dabei die verdrängten Lebenstraumata wieder auf. Es ist keine einstige Liebschaft, wie die Frau vermutet. Es geht nicht um einen Akt heroischer Mitmenschlichkeit, wie die Presse Harold vermarktet, wodurch sein Weg plötzlich zur hippen Pilgerreise mutiert. Harolds Erinnerungen kreisen um seinen Sohn, den er verloren hat und der ihn immer stärker halluzinativ begleitet. Der alte Mann will den Weg zu Ende gehen, alles Bisherige loslassen und endlich einmal eine Mission in seinem misslungenen Leben erfüllen. Seine Frau klammert zunächst, ist eifersüchtig, bedarf der Dinge um sich. Als sie die Vorhänge wütend von den Fenstern reißt, beginnt ihr Befreiungskampf.
Es ist ein völlig unspektakulärer Film, der durch die Musik und Landschaftsaufnahmen, den weiten Blick von Anhöhen auf den Horizont und die Untermalung mit Arpeggios von Dominantseptakkorden bisweilen am Rande des Kitsches, durch die mediale Aufmerksamkeit aus der Balance Richtung grotesker Übertreibung geworfen wird, doch durch die schauspielerische Präsenz von Jim Broadbent und Penelope Wilton wirkt der Film sehr authentisch. Durch die Kameraführung aus der Ferne und die argumentativen Kontroversen entwickelt sich eine fast dokumentarische Distanz, die sich durch Zooms auf Harolds Gesicht zunehmend in ein nachdenkliches Psychogramm verwandelt. Als er an sich zu zweifeln beginnt, gibt ihm seine Frau plötzlich die nötige Rückendeckung. Nicht der spirituelle Glaube an sich, sondern der Glaube an sich selbst ist die Botschaft, unterstützt durch die Hilfe der Mitmenschen. Dazu findet die Regisseurin Hettie MacDonald poetische Bilder, wenn Vogelstürme den Horizont explosiv einschwärzen, ein Vogel mit großen Schwingen dahinfliegt oder sich eine spielerische Dynamik zwischen zwei Vögeln entwickelt. Das Mitbringsel für die kranke Kollegin, eine kleine Kristallkugel, erhellt nicht nur deren Alltag, sondern auch all derer, die zum Gelingen dieser Pilgerfahrt beigetragen haben.
Mit Glauben kann man zwar keine Todkranken heilen, aber die Wunden, die das Leben geschlagen hat, wenn man die Dinge loslässt und das tut, wonach die Seele verlangt. „Weniger Vernunft, mehr Vertrauen“ ist die Botschaft. Gleichzeitig konterkariert die Geschichte mit schwarzem Humor fanatischen Glauben als geschickt getarnten Selbstbetrug und enthüllt mit grotesker Übertreibung gesellschaftliche Schräglagen. Man sollte sich nicht durch das biedere Filmplakat abschrecken lassen.
Künstlerisches Team: Rachel Joyce (Drehbuch), Hettie MacDonald (Regie), Ilan Eshkeri (Komponist), Sarah Blenkinsop (Chef-Kostümbildner), Christina Moore (Set-Dekorateur), Napoleon Strogiannakis, Jon Harris (Chef-Cutter), Kate McCullough (Chef-Kameramann)
In den Hauptrollen Jim Broadbent (Harold Fry), Penelope Wilton (Maureen Fry)