Berlin – Tschechows „Die Möwe“ in der Schaubühne als gelungener Spagat zwischen Melancholie und Amüsement

Theaterkrtik "die Möwe" an der Schaubühne präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Schaubühne, Berlin, Foto: Gianmarco Bresadola

„Seht doch, wie schlecht und langweilig ihr euer Leben führt!“, das wollte Tschechow in seinen Stücken zeigen, nicht als melancholische Stimmungsdramen, wie sie der russische Theaterreformer und Regisseur Konstantin Stanislawski im Moskauer Künstlertheater anlegte und damit die Rezeptionsgeschichte beeinflusste, sondern als Komödien. Ostermeier geht einen anderen Weg. In einem „Anpassungs- und Neuschreibungs-Prozess, wie wir ihn noch nie vorher hatten“ bekamen die SchauspielerInnen den Freiraum, ihre Text umzuformulieren, wobei durch die gelungene Besetzung viele persönliche Erfahrungen einfließen konnten. Dadurch gewinnt das Spiel eine ungewöhnliche Spannung und Authentizität, in der sich die Gegenwart spiegelt, zumal Kunst und Liebe aus heutigen Perspektiven beleuchtet werden.

Von Anfang an steht die Kunstdiskussion im Vordergrund, das traditionelle Theater, vertreten durch die berühmte Arkadina und den Schriftsteller Trigorin, gegen das konzeptionelle moderne Theater ihres Sohnes Kostja, das selbst seiner Schauspielerin Nina viel zu nüchtern ist, weshalb sie es durch ihre Art zu spielen emotionalisiert. 

Die Probe als Spiel im Spiel von Kostja-Darsteller Laurenz Laufenberg inszeniert, wird zwischen mythischen Pathos und moderner Nacktheit, wallender Kostümierung Ninas und Kostja von Kopf bis Fuß in Strumpfhosenoptik zu einem schräg komödiantischen Desaster, in dem einem Plastikhirsch unter Koljas Gewicht symbolisch für die verloren gegangene Einheit von Mensch und Natur die Luft ausgeht.

Theaterkrtik "die Möwe" an der Schaubühne präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Schaubühne, Berlin, Foto: Gianmarco Bresadola

In den knallharten Rivalitäten von Mutter und Sohn spiegelt sich die Kunstdebatte aus zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven und darüber hinaus der Kampf um Anerkennung. „Wenn Klassiker gespielt werden, ist die Hütte voll…Wir brauchen neue Inhalte“, so Kostja, mit Laurenz Laufenberg ein idealistischer Hitzkopf und Nina, alias Alina Vimbai Strähler ergänzt in romantisch mädchenhafter Anmut. „Es sollte auch um Liebe gehen“.

Was die Kunst fordert, versagt im Leben. Stephanie Eidt offeriert als  berühmte Arkadina in Barbie-Puppen-Optik sarkastisch die klassischen kapitalistischen Marktmechanismen hinter den Kulissen. „Wenn ihr wüsstet, wieviel mein Aussehen kostet.“ Mit Joachim Meyerhoff wird Trigonov zum grotesken Paradebeispiel eines traurigen Clowns. Getrieben von seiner erfolgsorientierten Schreibsucht stellt er sich selbst in Frage, was er vom Leben eigentlich noch mitbekommt, wenn er jede seiner Beobachtungen sofort auf Karteikarten notiert und aus den Schlüsselbegriffen Reizwortgeschichten über immer dieselben Themen regeneriert und seinem Schreibzwang nur beim Fischen entkommt. Wie viel schöner ist doch die Nähe Ninas. Kolja gelingt später der Durchbruch zum Schriftsteller, aber die Kunst kann ihm Nina, die mit Trigonov weggeht, nicht ersetzen. Mit ihrer flammenden, intrinsischen Begeisterung für die Schauspielerei und der daraus resultierenden Authentizität von Expression und Inspiration kann Nina ihr Umfeld begeistern. 

Die Liebe, das zweite große Thema in Tschechows „Die Möwe“ erinnert an Schnitzlers Reigen. Die Liebenden finden einfach nicht zusammen, werden aber von den SchauspielerInnen ganz differenziert in ihrem Leid Abgewiesene zu sein ausgeleuchtet. Der spastisch linkische Lehrer (Renato Schuch) liebt Mascha (Hêvîn Tekin). Sie hat nur Augen für Kostja. Der aber liebt Nina, die durch ihre jugendliche  Dynamik alle Männer bezirzt sogar Sorin, den alten Onkel Kostjas, und natürlich den oberflächlichen Arzt, ein Frauenheld, den Paulina, die Frau des Gutsverwalters, vergeblich anhimmelt. Ninas Liebe gilt Trigorin, dem berühmten Schriftsteller und Geliebten Arkadinas, in deren hysterischen Eifersuchtsszenen traditionelle weibliche Unterwerfungsrituale aufleuchten. Als Nina ein Kind von ihm bekommt, verlässt Trigorin sie. Er kehrt zu Arkadina zurück, Nina zu Kostja, nur um ihm Lebewohl zu sagen. Kolja erschießt sich. Die Kunst kann ihm die Liebe nicht ersetzen. Alle sind sie unglücklich, nur Nina nicht. Sie hat den Mut sich selbst zu verwirklichen, wie eine „Möwe“ frei zu fliegen, was die Kunst latent wieder aufwertet.

Künstlerisches Team: Thomas Ostermeier (Regie, Bühne), Jan Pappelbaum (Bühne), Ulla Willis (Mitarbeit Bühne), Nele Balkenhausen (Kostüme), Nils Ostendorf (Musik), Maja Zade (Dramaturgie), Erich Schneider Licht
Mit: Stephanie Eidt, Laurenz Laufenberg, Thomas Bading, Alina Vimbai Strähler, David Ruland, İlknur Bahadır, Hêvîn Tekin, Joachim Meyerhoff, Axel Wandtke, Renato Schuch.

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