Berlin – „Ophelia`s Got Talent“ – ein groteskes Spiel von der Casting-Show bis zum Weltenbrand in der Volksbühne

Theaterkritik "Orphelia's Got Talent" in der Berliner Schaubühne präsentiert www.schabel-kultur-blog.de

©Freie Volksbühne Berlin, Foto:Nicole Marianna Wytyczak

Nacktheit avanciert zum Konzept, nichts kann vertuscht werden. Genau darauf zielt Florentina Holzingers Inszenierung. Die Story ist trivial und sensationssüchtig wie unser Leben, verbindet zwar gekonnt die Zeitebenen zwischen romantischem Piraten-Machismo, feministischer Selbstermächtigung  und einem Neuanfang in der nächsten Generation, degradiert aber in der Ausführung immer mehr in eine Nummernrevue, in der eine Sensation die nächste toppt, was ja auch dem Zeitgeist entspricht. Die Texte bieten wenig, das Stück lebt von den Live-Videos des Bühnengeschehens und der Musik, die man aushalten können muss. Für eigene Gedanken bleibt kein Raum, zu schrill und auf Spannung ausgelegt sind die meisten Szenen, zu stark dröhnt der Technosound das Hirn zu.

Betörender Hubschrauberlärm. Via Video fliegt Annina Machaz als zahnlückiger Captain Hook Richtung Volksbühne, springt ab, schneidet sich aus dem verfangenen Fallschirm und marschiert mit Rüschenhem und nacktem Po schnurstracks durch den Zuschauerraum direkt auf die Bühne, um ihre dreiköpfige Jury zu präsentieren, eine Blondine, eine Dunkelhaarige und als Überraschung eine Kleinwüchsige. Die Casting-Show „Orphelia´s Got Talent“  einen präsentiert Mix ganz unterschiedlicher Sensationen. Körperästhetik pur, sphärisch untermalt bietet eine Pole-Tänzerin in luftiger Höhe. Die Performance einer tätowierten Schwertschluckerin gipfelt in der Einführung einer Sonde, womit sie das getrunkene Wasser in ihrem Magen als Meer mit Fischchen als heile Welt assoziieren lässt. Umso ungelenker wirkt in diesem Kontext Udo Jürgens veränderter Song „Ich war noch niemals in Rio“ gesungen von Zora Schemm vom Ramba Zamba Ensemble. Als Kontrastelement wird sie trotzdem gecastet genauso wie die Entfesselungskünstlerin unter Wasser, die als zusätzlicher Showeffekt gerettet werden muss, wobei die hohlen emotionalen Statements der Jury ganz bewusst, das Gelächter aus dem Publikum und der Szenenapplaus spontan das Niveau derartiger Shows grotesk unterstreichen. Auf dem Dancefloor wächst das Team unter den Step-Stampf-Rhythmen und gewaltiger Techno-Beschallung, die auch das Publikum durchdröhnt, zusammen. Mit Live-Akkordeon und Saugglocke gibt es für den Striptease im Miniformat Zwischenapplaus. Das Team performt fröhlich rund um den Pool und endet aufgereiht abrupt mit soldatischer Haltung. Jetzt gelten die Befehle des alkoholisierten Kapitäns.

Nun kann Captain Hook mit seinen Matrosinnen die Meere und ihre Mythen entdecken. Zwei Pools, einer als Transparentbecken, suggerieren die nackten Schwimmerinnen zunächst die Einheit von Mensch und Natur, teilweise intensiviert durch Nymphenoptik, ohne deren Sagenwelt tatsächlich einzubinden. Ein halbes Dutzend Kinder dürfen mit auf die Reise als Symbol der Zukunft. Mit Spiegeln fangen sie die Gesichter der Erwachsenen ein, die sich durch die Bilder der Live-Kameras in all ihrer Tristesse offerieren, nichtsdestoweniger die Kinder zu einem hedonistischen Lebensstil verführen. Der Freude über die neue Freiheit folgt schnell die deprimierende Interpretation der Geschichten und Balladen. Die Sage von „Lea und der Schwan“ enthüllt sich als brutale Vergewaltigungsszene, Schillers „Taucher“ wie die Kinder pseudomäßig aus dem Publikum gecastet, wird ein Opfer herrischer Arroganz. Die Frauen erzählen ihre eigenen Geschichten von Magersucht, Vergewaltigung, Alkoholismus und ahmen trotz aller Selbstermächtigung machohafte Klischees der Tapferkeit nach, wenn sie sich live piercen, tätowieren und betrinken. Die surreal verdichtete Stimmung dieses Pool-Arkadiens gipfelt mit „Sailor Dance II“ in einer mitreißenden, musicalreifen Tanzszene, die in eine knallharte Schlägerei ausartet. Und es wird noch schlimmer. In einer grausigen herangezoomten Szene schneidet Captain Cook der schwangeren Lea den Bauch auf. Statt eines Embryos holt er eine Feuerlunte für den Weltenbrand heraus. Der Pool brennt. Niederprasselnde Plastikflaschen löschen das Feuer. Diese sensationslüsterne Inszenierung ist zwar imageträchtig und wird vom Publikum bejubelt, aber man verpasst nichts, sie nicht gesehen zu haben. Kinder in diesem Kontext auftreten zu lassen, erscheint mehr als fragwürdig.

Theaterkritik "Orphelia's Got Talent" in der Berliner Schausbühne präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

Applausfoto@Michaela Schabel

Künstlerisches Team: Florentina Holzinger (Konzept, Regie),Stefan Schneider (Sounddesign), Paige A. Flash, Urška Preis, Stefan Schneider (Musik), Nikola Knežević (Bühne), Anne Meeussen (Licht), Melody Alia, Jens Crull, Max Heesen (Sound), Melody Alia (Live-Kamera), Max Heesen (Live-Schnitt), Renée Copraij, Sara Ostertag, Fernando Belfiore, Michele Rizzo (Dramaturgie), Johanna Kobusch (Dramaturgie Volksbühne)

Mit: Melody Alia, Saioa Alvarez Ruiz, Inga Busch, Renée Copraij, Sophie Duncan, Fibi Eyewalker, Paige A. Flash, Florentina Holzinger, Annina Machaz, Xana Novais, Netti Nüganen, Urška Preis, Zora Schemm und Stella Adriana Bergmann, Greta Grip, Golda Kaden, Izzy Kleiner, Lea Schünemann, Nike Strunk, Laila Yoalli Waschke, Zoë Willens.