©Deutsches Ensemble, Marcel Urlaub
Großartig spielt Oliver Kraushaar diesen Antihelden unter dem jungen Regisseur Max Lindemann im gelungen reduzierten Bühnenkontext. Er durchbricht die vierte Wand, spricht das Publikum direkt an, verwendet Höflichkeitsfloskeln, ein „Gesundheit“, wenn jemand niest, ein „Tschüss“, wenn einer geht. Es entsteht eine Gesprächssituation, die den Zuschauer immer mehr in ihren Sog zieht. Dieser Mann ist weder verrückt noch ein Penner, er hat die Manieren eines Anzugträgers. Aber über die Jahre ist nicht nur der Anzug, sondern der Mensch darin verschwitzt und abgenutzt pure Fassade.
Dieser stattliche Mann hat keine Karriere vorzuweisen, ist arm und einsam, bekommt keinerlei Anerkennung. Keiner fragt ihn, wie es ihm geht. Schon in der Schule war er ein Außenseiter, stand „wie abgespuckt“ alleine da, was zum Dauerzustand wurde, wie seine Erinnerungen eröffnen. Immer noch um treibt ihn die Begegnung mit dem arroganten erfolgreichen Smirnov zm, die in einem erniedrigenden Besäufnis endete, in dem der nackte Po seine Gedanken formulierte und anschließend bezahlter Sex eine gewaltige Sehnsucht nach Liebe auslöste.
©Deutsches Ensemble, Marcel Urlaub
Immer stärker wird der Monolog zum Rundumschlag eines Menschen, den sein Leben anwidert, der sich deshalb in Ich-rette-die-Welt-Träume oder in das traditionelle Sehnsuchtsmodell Liebe und Familie flüchtet, nicht länger als drei Monate einsam sein kann, sich wieder in die die Gesellschaft stürzt, um dann umso mehr durch die eigene Unzulänglichkeit noch steiler abzustürzen.
Kleine Dinge, der Sprühnebel mit dem Deo oder das Zündeln mit der Zigarette werden zu Symbolen alltäglicher Frustrationen mit Potential zu irrationalen Amokhandlungen, in denen gleichzeitig die schrecklichen Irritationen unserer Zeit aufleuchten, eben weil Oliver Kraushaar diesen Mann nicht als Kranken, sondern als Gedemütigten, Nicht-Sichtbaren unserer Zeit präsentiert. „Jeder anständige Mensch ist Feigling oder Sklave“. Die Abstammung des Menschen vom Affen ist genauso ein Faktum wie sein Machtgehabe. Text und Inszenierung weiten den Einzelfall auf die ganze Gesellschaft. Wie Dynamit sitzen viele in einem geistigen Kellerloch. Sie haben nichts als ihre Gedanken und verzweifeln an der Diskrepanz zwischen möglichem Leben und der eigenen erlebten Unzulänglichkeit, dem Bedürfnis in die Masse einzutauchen, ein Teil von ihr zu werden und gleichzeitig von ihr angewidert zu sein, weil man sich mit ihren Bedürfnissen im Grunde gar nicht identifizieren mag. In den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ findet sich jeder, der über das Leben nachdenkt.
Künstlerisches Team: Max Lindemann (Regie), Katja Pech (Bühne), Anneke Goertz (Kostüm), Arnaud Poumarat (Licht), Johannes Nölting (Dramaturgie, Bearbeitung)
Es spielt Oliver Kraushaar