München – „Passagen“ – Eröffnung der Münchner Ballett-Festspielwoche mit fulminanten Uraufführungen von Dawson und Goecke und einer Neueinstudierung von Ratmansky

Tanzkritik "Passagen" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

„Affairs of theHeart“©S. Gherciu

Jede Choreografie ist ein Kunstwerk für sich mit einer Gemeinsamkeit, rasant getanzt, Ballett, das sich dem zeitgenössischen Tanz immer mehr öffnet und damit ganz neue Sichtweisen auf körperliche Umsetzung von Musik eröffnet. 

In lichtem Blau, fast in Nude-Optik bringt David Dawson seine 13 TänzerInnen in ständig wechselnden Konstellationen auf die Bühne. Jeder ist Solist, Partner, jeder hat seine eigene Ausdrucksweise und trotzdem entwickelt sich in den gemeinsam wirbelnden Kreisen und Spiralen eine mitreißende Homogenität mit kurz aufleuchtender Synchronität der Bewegungsdynamik nach der Musik von Marjan Mozetichs „Konzert für Solo-Violine und Streichorchester“. Das virtuose Geigenspiel (Markus Wolf) zwischen Rasanz und Lyrik inspirierte Dawson in der Zeit der Pandemie zu einer Hommage an die Liebe per se, Ausdruck menschlicher Sehnsucht nach Zweisamkeit und Gemeinsamkeit.

Tanzkritik "Passagen" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

„Affairs of the Heart“©S. Gherciu

Vor leuchtend ineinander fließenden Farbenflächen oder grafisch durch Dreiecke und gerade Linien präzise strukturiert pulsiert das Tanzgeschehen in vibrierender Euphorie neuen Horizonten entgegen. Gelb strahlt. Grau und Lila ziehen bedrohlich auf und werden doch durch einen roten Keil emotional zur Seite gedrängt. Aus den Soli formieren sich Kreise als Ausdruck harmonischer Spannung, raffinierte Pas de deux und Pas de trois, deren komplexe Hebefiguren sich im schnellen Bewegungstempo für einen Moment schemenhaft duplizieren und einmal mehr zur Hommage gemeinschaftlicher Energie werden. In extrem schnellen Bewegungen schrauben sich die Tänzerinnen spiralig nach unten, noch öfter nach oben und schweben wie Trophäen der Freiheit in luftiger Höhe. Die Körper in extremen Biegungen, die Arme ganz weit und gestreckt geöffnet, die Hände flatternd wie Flügel verwandeln sich Tänzerinnen und Tänzer in wirbelnde Geschöpfe euphorischen Lebensgefühls, das in einer Serie von männlichen Spreizsprüngen zu explodieren scheint.

Nach diesem absolut ästhetischen, in sich stimmigen und überaus mitreißenden Auftakt hat es Ratmanskys Choreografie nach Modest Mussorsgkis „Bilder einer Ausstellung“ etwas schwer. Es fehlt der Neueinstudierung an der Feinabstimmung. Zu laut, zu monoton wirkt Dmitry Mayborodas Interpretation am Klavier. Zu stark drängt sich das Bühnenbild, inspiriert von Kandinskys „Quadrate und konzentrische Ringe“ durch alternierende Videoprojektionen in den Vordergrund und reduziert dadurch die Aura der zehn TänzerInnen und die subtil humorvolle Choreografie Ratmanskys.

Tanz-Passagen

„Bilder einer Ausstellung“©Wilfried Hösl

Wie freche Musiknoten, gleichzeitig wie Pinselstriche agieren die Tänzerinnen elfenhaft zart in ihren transparenten Kleidchen, durch Farbtupfer den Tänzern in den Pas de deux den Tänzern zugeordnet. Im Detail löst auch Ratmansky die streng formalisierte Bühnensprache des klassischen Balletts auf, entwickelt neue Schrittkombinationen. Fröhlich lässt er seine TänzerInnen über die Bühne in die Hocke hüpfen, zu Boden gehen, die Arme weiten, in athletischen Hebefiguren verharren, die Komposition durch Klatschen akzentuieren. Aber seine choreografische Dynamik bleibt im Schatten von Dawsons Rasanz, zumal Ratmansky weniger die perlend lyrischen Läufe als das akkordische Fundament von Mussorsgkis Komposition choreografisch umsetzt. Wie temperamentvoll und charismatisch die Choreografie im Grunde hätte sein können, vermittelt Ballettmeister Amar Ramasar, der kurzfristig eine Rolle übernehmen musste. Der Applaus war nicht nur dem Stück geschuldet, sondern auch Ratmanskys eindeutiger Sympathiekundgebung für die Ukraine, deren Flagge bei der zweiten Aufführung am Sonntag zwar nicht mehr geschwenkt wurde, aber bühnenweit im Hintergrund leuchtete. Alexei Ratmansky wurde in Russland geboren und ausgebildet, war erster Solist im Ukrainischen Nationalballett, Choreograf in Sankt Petersburg und künstlerischer Direktor des Bolschoi-Balletts in Moskau und wurde durch die Restauration historischer Choreografien bekannt. Jetzt lebt er in den USA. 

Was folgte, Marco Goeckes „Sweet Bones’ Melody“, ist bewegungstechnisch wohl nicht mehr zu überbieten. Aus der sphärischen Dunkelheit lässt Marco Goecke die elf TänzerInnen meist einzeln, sehr plötzlich auf der Bühne erscheinen und verschwinden. In irrer Geschwindigkeit den wahnwitzigen Pizzicati der Musik folgend, gefühlten 32-stel Noten, verrenken sie Arme, Beine, Kopf und Körperachse, als wären sie Aliens gemacht aus Plaste-und-Elaste-Material, selbstzerstörerische Roboter, denen die Sicherung durchgegangen ist, die mitunter Assoziationen mit den malochenden Arbeitermassen von Fritz Langs Stummfilm „Metropolis“ in Erinnerung rufen. Getanzt nach der dystropischen Komposition „Mannequin“ der Südkoreanerin Unsuk Chin nach E.T.A. Hoffmanns romantisch-futuristischer Geschichte „Der Sandmann“, live gespielt in kleiner Besetzung vom Bayerischen Staatsorchester entsteht eine audio-visuelle Welten-Apokalypse, in der der Mensch wie bei Beckett dem existentiellen Nichts ausgeliefert ist und selbst in der Gemeinschaft in Einsamkeit verharrt.

Tanzkritik "Passagen" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

„Sweet Bones‘ Melody“@ C. Quezada

Zweisamkeit als Ausdruck menschlicher Geborgenheit leuchtet nur kurz auf, endet sogleich im Nahkampf. Ein Fetzen blauer Himmel verschwindet. Nebelwolken verdichten sich zu Schnee. Emotionale Eiszeit bricht aus. TänzerInnen zittern, zucken wie fremdgesteuerte mechanische Wesen bleiben selbst in der Annäherung auf steifer Distanz.  Im fliegenden Wechsel lösen sich die TänzerInnen ab, formieren sich zu Gruppen, interagieren präzise wie programmiert bei Höchstgeschwindigkeit, zuweilen gemeinsam, viel öfter allein in alle Richtungen gegen ein imaginäres Nichts, was durch das Zwielicht noch düsterer wirkt und durch Else Lasker-Schülers eingesprochenes Gedicht „Weltenende“ den narrativen Rahmen konkretisiert. Weiße Puderwolken verlieren sich. Die Dunkelheit wird um so deutlicher. Es gibt keinen Frieden und kein Leben mehr. Alles verstummt. Stille. Nur ein Tänzer verharrt auf der Bühne eine weiße Taube beschützend in den Händen haltend, wodurch Goeckes irritierend faszinierende Choreografie zur Apokalypse des „Day After“ wird und gleichzeitig zum berührenden Friedensappell. So spannend, energetisch erlebt man Tanz selten.