Berlin – Christian Spuck erobert mit seiner neuen Choreografie „Madame Bovary“ das Publikum in der Deutschen Oper

Ballettkritik "Madame Bovery" vom Berliner Staatsballett präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Berliner Staatsballett, Foto: Serghei Gherciu

Stille. Marode, verstaubt düster realistisch wirkt der einstige Ballsaal durch Ballettstangen in einen Trainingsraum umfunktioniert. In moderner Optik offerieren ein, dann fünf Tanzpaare das Grundmodell des Abends, die Sehnsucht des Miteinander und die damit verbundenen Diskrepanzen, den Spagat zwischen Leidenschaft und Verzweiflung, hörbar durch Györgi Ligetis knarzende Tonstrukturen und Camilles zauberhaften Song „She was“, der zum musikalischen Leitmotiv Madame Bovarys avanciert. Nach diesem zeitgenössischen „Prolog“ wandelt sich die Szenerie und folgt aus der Retrospektive  Madame Bovarys Biografie, stimmungsvoll und experimentell untermalt mit Musik von Camille Saint-Saëns, Toru Takemitsu und Thierry Pécou. Sie heiratet traditionell einen tüchtigen Landarzt, langweilt sich aber bald in dieser Ehe. Nach einem Ball auf dem Schloss fällt ihr die Rückkehr schwer. Mit dem Studenten León träumt sie davon, die Provinz zu verlassen. Er geht. Sie bleibt. Bei einem ländlichen Fest verliebt sie sich in den Gutsbesitzer Rodolphe. Ihre Garderobe wird immer aufwändiger, die Schuldscheine stapeln sich, herrlich satirisch in Szene gesetzt mit einer Schreibfeder wie ein Dolch durch Dominik White Slavkovsky als Monsieur Lheureux. Rodolphe verlässt Emma Bovary trotzdem. Sie stürzt sich ins urbane Vergnügen mit weiteren Enttäuschungen und Verschuldungen. Es bleibt nur der Selbstmord und der ungeliebte, doch liebende Ehemann (Alexei Orlenco) an ihrer Seite. 

Weronika Frodyma gibt Madame Bovary die natürliche Aura eines sehnsuchtsvollen Mädchens, das die Liebe sucht und an ihren naiven Vorstellungen und den damit verbundenen Enttäuschungen zerbricht. Sie ist Opfer einer romantischen Wahnvorstellung und rücksichtsloser Männer, die nur ihr Ego kennen. Ihre unbeschwerte Zuwendung in den Pads de deux mit León (Alexander Cagnat) und Rodolphe (David Soares) trifft auf keine Seelenverwandtschaft, degradiert die Beziehungen zur flüchtigen, austauschbaren Amour und offeriert ihr Leid über Originaltexte aus dem Off durch Flauberts klare Analyse, der Marina Frenks sanfte Stimme eine melancholische Tristesse verleiht. Die Liebhaber entschwinden durch den Spalt einer gigantischen Tür in andere Welten. Emma Bovary flüchtet sich in neue Abenteuer, ohne die Liebe zu finden.

Berührend hilflos wirken ihre Verführungsversuche, um an Geld zu kommen. Sie ist weder Femme Fatale noch Grande Dame. Aus der Entfernung bleibt Weronika Frodyma selbst in diesen Situationen ganz die Mädchenfrau ohne Allüren, ein graziles weidwundes Reh. Die Projektionen zeigen in großformatigen Porträts ihre Verzweiflung, gefilmt von einem Paparazzo. Er verfolgt sie genauso wie eine Gruppe von Gaffern, mit der Christian Spuck die Sensationslust der Öffentlichkeit als stummfilmartig surreale, pantomimisch groteske Slapstickszenen einbringt und die klassische Erzählweise amüsant unterbricht. Der ständige Wechsel der Zeit- und Stilebenen, der lyrischen Pas de deux und der atmosphärischen Ensembleszenen, nicht zuletzt die extrem unterschiedlichen Klangwelten, insbesondere  machen diese Choreografie so spannend.

Ballettkritik "Madame Bovery" vom Berliner Staatsballett präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Berliner Staatsballett, Foto: Serghei Gherciu

Tänzerisch zeigt sich das Ensemble des Berliner Staatsballetts von der besten Seite. Jeder Akzent der Musik, von Jonathan Stockhammer sehr präzise und expressiv dirigiert, wird durch tänzerische Details umgesetzt. Christian Spuck war es wichtig, möglichst viele TänzerInnen bei der Einstandspremiere mitwirken zu lassen, nach den Unruhen der letzten Jahre eine symbolische Geste für bessere Zeiten, in der  durch verschiedene Stilrichtungen die unterschiedlichen Vorlieben des Publikums erfüllt werden sollen.

Auf die tänzerische Entwicklung darf man gespannt sein. „Madame Bovary“ präsentiert eine gelungene Symbiose klassischer Eleganz und moderner Rasanz, extrem hohen, gezirkelten Beinen, temperamentvollen Drehungen und Hebungen, die Abkehr von applausheischenden Soli zur Hinwendung einer gekonnten Ensembledynamik, die in verschiedenen Tanzgruppen alternierend, überaus synchron, aber auch in individuellen Typisierungen auf die hohe Qualität und Vielseitigkeit des Berliner Staatsballetts verweisen. 

Ein Extralob für das gelungene Programmheft, das auch der Musik den Raum gibt, den sie verdient.

Künstlerisches Team: Christian Spuck (Choreografie, Inszenierung), Jonathan Stockhammer (Musikalische Leitung), Rufus Didwiszus (Bühne), Emma Ryott (Kostüme), Martin Gebhardt (Licht), Claus Spahn (Dramaturgie, Libretto), Tieni Burkhalter (Video), Marina Frenk (Stimme)

Mit dem  Ensemble der Berliner Staatsoper und dem Orchester der Deutschen Oper, Adrian Oetiker (Klavier)

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