Schweiz – Andermatt – exzellentes „Surprise“-Konzert unter der Leitung von Lena-Lisa Wüstendörfer

Andermatts Architektur präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Michaela Schabel

Das Programm entpuppte sich als Spagat zwischen klassischer und volkstümlicher Musik, als gekonnte Kombination aus bekannten und weniger bekannten Stücken. Von Mozarts kleiner Nachtmusik, die es bis zum Handy-Klingelton geschafft hat, aber nicht allzu oft auf die Bühne, bis zur Neukreation aus zwei verschiedenen Kompositionen.

Schon bei diesem ersten Stück zeigt sich wie Lena-Lisa Wüstendörfer das 24-köpfige Streichorchester durch ihr markantes, zeitweise fast tänzerisches Dirigat in ihren Bahn zieht. Zuerst übernimmt der erster Geiger ihre Körpersprache, die sich wie eine Welle ausbreitet und eine mitreißend kammermusikalische Bewegungsdynamik verbreitet. 

Fern jeglichen Gassenhauers entwickelt Mozarts „Kleine Nachtmusik“ einen Charme mit erotischen Neckereien und parodistischen Akzenten im ständigen Wechsel von Piani und Forti als Wechselspiel der Gefühle und Perspektiven.

Konzert Annermatt mit Lena Lisa Wüstendorfer präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Michaela Schabel

Paul Hubers „Konzert für Hackbrett und Streichorchester“ hört man dagegen selten. Seine hochromantische Musik, die er mit volksliedhafter Hackbrettmusik kombiniert, ist eine überaus sphärisch emotionalisierende Komposition, in die Christoph Pfändler sehr leger mit dem Kopf rhythmisch mitwippend  ein fröhlich kleines melodisches Leitmotiv aus dem alten Volkslied „Schönster Augenstern“ einspielt, das er immer virtuoser variiert, als wären es spontane Jazzimprovisationen, während das Orchester den Klangteppich  auf ganz leise Vibrationen reduziert. Ländler-Rhythmen und asiatische Akzente werden hörbar, kratzende Stopps und dissonante Erhöhungen, die im finalen Solo in einem mitreißenden Klangfeuerwerk eskalieren. 

Nach der Pause erobert der erste Geiger gleich zu Beginn von Joachim Raffs „Cavatina“ mit einem berührend interpretierten Solo das Publikum. Dieses erste Stück der „Six Morceaux“ ist Raffs populärste Komposition. Sie stand sogar auf der Jungfernfahrt der Titanic in Rahmen der Salonmusik auf dem Programm. So gespielt ist das Stück eine wunderbare Hommage zu Raffs 200. Geburtstag in diesem Jahr. 

Zum Finale erwartete das Publikum eine weitere Überraschung mit Auszügen aus Tschaikowskis „Serenade für Streicher“ im Wechsel mit Paul Juons „5 Stücke für Streichorchester“. Durch die ungewöhnliche Verschränkung  russischer und Schweizer Musik gelingt eine sich gegenseitig steigernde Dynamisierung, ein faszinierender Drive, den Lena-Lisa Wüstendörfer, jetzt breitbeinig mit Taktstock mit ausladenden Körperbewegungen flott vorantreibt und gleichzeitig kraftvoll in Balance hält, wobei die vier Cellisten und zwei Kontrabässe in Fahrt kommen, sehr markant die Tiefen intonieren und die Geigen in unterschiedlichen Tonlagen weitere Klangebenen darüber aufbauen, wobei sich die tonalen Gefühlsmomente und musikalische Dramatik in wogender Dynamik verdichten. 

Gerade mit dieser letzten ungewöhnlichen Komposition eines Russen mit persönlichen Verbindungen in die Schweiz und des in Moskau geborenen Schweizers mit Graubündner Wurzeln beweist das Schweizer Orchester einmal mehr, dass Musik weder Grenzen noch Animositäten kennt, sondern musikalische Perspektiven und menschliche Denkweisen weiten will.

Nicht nur für Klassikfans ist der Andermatter Konzertsaal ein begeisterndes Erlebnis. Das Programm präsentiert ganz unterschiedliche Genres. Man möchte wieder kommen. Das Jahresprogramm für 2022/23 steht schon, u.a. mit Opernarien gesungen von Rolando Villazon und dem Schweizer Chansonier Stephan Geier.