CD – „Linien des Lebens“ von Christopher Jung (Bariton) und Jan Roelof Wolthuis interpretiert 

CD-Kritik "LInien des Lebens" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©2022, PASCHENrecords

Die CD beginnt mit „Vier Gesängen nach Worten von Friedrich Hölderlin“ (1933) in der Version von Wolfgang Fortner (1907 -1987). Seine traditionell angelegte Komposition bringt den Puls der Gedichte „An die Parzen“, „Hyperions Schicksalslied“, „Abbitte“ und „Geh unter schöne Sonne“, das fließend jambische Versmaß mit daktylischer Rhythmisierung gut zur Wirkung, was Christopher Jung durch stark akzentuierte Klangfärbung der Vokale, vor allem der Umlaute und deren atmosphärische Verlängerung intensiviert. Es „…blüht…“ die Sprache melodisch „…mühelos…“

Von den antikisierenden Versen Hölderlins geht mit Maurice Delage (1879 – 1961) die Reise weiter nach Indien. Aus seinem berühmtesten Werk „Quatre poèms hindous“ ist der zweite Gesang mit „Intermezzo“ und „Lahore – un sapin isolé“ zu hören, beide nach Gedichten Heinrich Heines. Christopher Jung gelingt es in den diffizilen Kantilenen durch eine außergewöhnlich lange Koloratur höchst virtuos die „indischen“ Wurzeln aufleuchten zu lassen. Gleichzeitig lässt Jan Roelof Wolthuis auf dem Klavier die Klangfarben einer Sitar assoziieren.

Begeistert von Hölderlin war auch Benjamin Britten (1913-1976). Seine „Sechs Hölderlin-Fragmente op. 61“ wurden als Geburtstagsgeschenk für seinen Freund, den Prinzen Ludwig von Hessen, in Rheinsberg 1958 uraufgeführt. Benjamin Brittens expressive Tonsprache passt bestens zu Hölderlins kritischen Gedanken. Wütend akzentuiert Christopher Jung den viel zitierten Satz „Ach! der Menge gefällt, was auf dem Marktplatz taugt…“ aus „Menschenbeifall“, lässt „An das Göttliche glauben Die allein/ die es selber sind“ furios aufleuchten und führt Hölderlins Gedanken demütig weiter „Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen…“ aus dem Titelgedicht „Linien des Lebens.“ Durch die starke Betonung der Interrogativpronomen im ansonsten sehr leisen Kontext bekommen Alcibiades‘ Fragen an Socrates eine plastische, hinterfragende Wucht. „Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste.“ Übermütig kommt „Die Jugend“ daher, das Klavier in schnellen Läufen und kräftigen Crescendi, während „Die Hälfte des Lebens“ in retardierender Ruhe schon das Lebensende vorausahnt.

Existentielle Fragestellungen präsentieren ebenso Frederick Delius’ (1862 – 1934) Vertonungen von Nietzsches Gedichten, in denen er „Nach neuen Meeren“, sprich Horizonten sucht, „Der Wanderer“ verloren ist, wenn er an die Gefahr glaubt. Der „Einsame“ hasst das Folgen und das Führen. „…Gehorchen? Nein! Und aber nein – Regieren!“ Was Nietzsche lockt ist … „mich selber zu mir selbst – zu verführen“. Der Gesang oszilliert entsprechend zwischen Euphorie und Melancholie, die Tonsprache des Klaviers zwischen Wagner und Richard Strauss, chromatischen Irritationen, pentatonischen Harmonien und impressionistischem Flirren.

Das Besondere dieser CD ist, dass Jan Roelof Wolthuis (*1962) eigene Vertonungen präsentiert. Am Ende seiner langjährigen Theatertätigkeit wurde er durch Auftragswerke inspiriert Lieder zu vertonen, zumal Christopher Jung sich dieser Werke annahm. Auf der CD macht Roelof Wolthuis über Gedichte von Trakl, Hölderlin, Goethe und Eichendorff die Facetten der Melancholie musikalisch hörbar. „De profundis“ nach einem düsteren Kriegsgedicht von Georg Trakl über Gottes Schweigen ist dem Sänger gewidmet.

Mit Petr Ebens (1929 – 2007) Liedern nach Gedichten von Rainer Maria Rilke enden die „Linien des Lebens“ zwischen einer wehmütigen Erinnerung an die böhmische Volksseele und dem Wechsel der Jahreszeiten zwischen „Herbsttag“ und „Vorgefühl“ auf das Leben danach. Aus subtilen Tönen und kraftvollen Forti entwickeln beide Künstler fulminante Szenarien. 

Die Auswahl der Texte und Kompositionen sind allesamt vortrefflich. Kleine textliche Wiederholungen heben inhaltliche Bedeutungen gekonnt hervor. Die Interpretationen vermitteln den Eindruck gleichwertiger Bedeutsamkeit. Das Klavier unterstreicht die atmosphärischen Szenarien, wobei es zuweilen etwas stark in den Vordergrund tritt. Die sängerischen Tonsprünge in die Tiefe indes wünschte man sich etwas fulminanter. 

Christopher Jung wurde in Ludwigshafen am Rhein geboren, studierte in Berlin und Leipzig, gab sein Operndebüt als Papageno. Neben seiner Konzerttätigkeit ist Christopher Jung seit 2010 Professor für Gesang an der Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik Halle und an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 

Jan Roelof Wolthuis studierte Klavier in Zwolle und Amsterdam, Orchesterdirigieren in Hamburg, absolvierte Meisterkurse in Liedbegleitung. Er arbeitete als Pianist und Dirigent in vielen deutschen Städten und Amsterdam, als Liedbegleiter in Europa, Südkorea und in den USA. Seine Vokal- und Orchesterkompositionen waren über Europa hinaus auch schon in China hören. Zur Zeit arbeitet er an einer Oper und unterrichtet an den Musikhochschulen in Würzburg und Nürnberg.