Berlin – „Musikfest Berlin“ vom Royal Concertgebouw Orchestra exzellent eröffnet 

Musikfest Berlin 2023, Eröffnungskonzert, präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Fabian Schellhorn

Man kennt die Texte, die die klassischen Komponisten vertonten, doch wie Jörg Widmann sie musikalisch präsentiert, bringt eine unglaubliche emotionale Wucht auf die Bühne, ohne dass die Intimität der Lieder verloren geht. Bariton Michael Nagy singt nur fünf Lieder, und doch bilden sie eine Anthologie von Liebesfreud und mehr noch von Liebesleid. Wie unter einem akustischen Mikroskop werden Gefühle vergrößert, intensiviert, zu aufwühlenden hochdramatischen Psychogrammen, die hinableuchten in die Untiefen der Sehnsüchte und Enttäuschungen. Berührend lotet Bariton Michael Nagy die Lieder zwischen hauszarten Höhen und wuchtigen Tiefen aus, ungewöhnlichen Synkopen und markanten Pausen, in den existentielle Nöte fühlbar werden. Solisten und Orchester lassen verspielt die romantischen Sequenzen aufleuchten und geben der Einsamkeit und dem Abschiednehmen eine düster eruptive Wucht, die mitunter die Stimme überwogt und dann doch wieder kraftvoll Oberwasser gewinnt. Jedes Lied hat seine ganz eigene Dynamik und alle zusammen entwickeln eine mitreißende Dramatik. Das erste Lied, Klabunds „Der arme Kaspar“, bringt die Problematik in holzschnittartiger Reduktion bereits auf den Punkt „Ich bin allein“ und mit Brentanos „Einsam will ich untergehn / wie ein Herz in deinem Herzen“ endet der Liederzyklus voll unerfüllter Sehnsucht. Dazwischen werden romantische Lieder aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ tonal parodiert. „Hab’ ein Ringlein am Finger“ verwandelt sich in einen Alptraum mit schräger Tuba und überraschenden Paukenschlag, „Das Kartenspiel“ in eine makabre Liebesmetapher mit drastischem Ausgang. „Herzensdame stach ihn ab.“ Dreimal wiederholt Michael Nagy diese Verszeile zum jazzigen Drive der MusikerInnen. Der plötzliche Stopp berührt zutiefst, während dazwischen  „Das Fräulein stand am Meere“ als schräg schriller Walzer Heinrich Heines berühmtes Beispiel romantischer Ironie grell parodiert. Nicht nur das Publikum, auch Komponist Jörg Widmann war begeistert von diesen Liedinterpretationen. 

Musikfest Berlin 2023, Eröffnungskonzert, präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Fabian Schellhorn

Nach diesem fulminanten Auftakt waren die Weichen für Mahlers Symphonie Nr. 7 in e-Moll bestens gestellt. Es ist ein Werk, an dem sich Dirigenten ein Leben lang abarbeiten. Mahler selbst wertete seine 7. Symphonie, nachdem er die 8. geschrieben hatte, als sein „bestes Werk“ mit „vorwiegend heiterem Charakter“. Sie entstand in den glücklichen Sommermonaten 1904/05 am Wörthersee und war als ein erfolgreiches Tourneestück geplant, verschwand jedoch schnell von der Bühne. Die einen kritisierten die bizarren Passagen, andere die heiteren, für manche ein Alptraum, das Werk eines Verrückten. Wegen seiner Komplexität ist die 7. für Orchester und Dirigenten eine Herausforderung. Wie brillant diese 80 Minuten lange Symphonie klingen kann, beweist das Royal Concertgebouw Orchestra unter dem Dirigat von Iván Fischer. Als Gründer der Ungarischen Mahler-Gesellschaft ist er ein absoluter Kenner von Mahlers Lebenswerk. Er hält sich strikt an die Partitur und lässt die Komplexität der 7. mit all ihren instrumentalen Überraschungen, musikalischen Brüchen und latenten Ironismen aufleuchten. Er lebt sie vom Dirigentenpult aus regelrecht mit und überträgt seine Empathie durch seine Körpersprache auf das Orchester, das mit kammermusikalischer Empathie die komplexen Klangdualitäten, Echoeffekte, ständigen Stimmungswechsel mit Bravour meistert. So gelingen mit entwaffnender Leichtigkeit und faszinierender Präzision immer wieder die rabiaten Wechsel zwischen lyrisch zarten Passagen und orchestraler Wucht, abrupten Paukenschlägen und frechen Pizzicati. Jedes Instrument leuchtet klangschön auf, allen voran die Hörner als Leitmotiv und rhythmischer Pulsschlag, der sich wellenartig als Echo auf die Instrumentalgruppen weitet und in symphonischer Harmonie wuchtig auftrumpft. Die beiden Harfen entführen durch ihre Glissandos in naturlyrische Romantik, Klarinetten und Flöten flirren erotisch. Die Mandoline bringt südländische Sinnlichkeit ein. Sie akzentuiert Iván Fischer mit Zeigefinger derart intensiv, dass sie für kurze Momente zum Hauptakteur avanciert und eine herrlich parodistische Distanz zu den musikalischen Träumereien aufbaut. Trotz der Motivwiederholungen bedingt durch die symmetrische Form um das Scherzo in der Mitte, flankiert von den beiden Nachtstücken, vor allem durch das etwas ermüdende Rondo-Finale, das das Motiv des Marschierens des Kopfsatzes immer wieder aufgreift, zieht das Royal Concertgebouw Orchestra durch seine Klangfacetten und die schnellen Tempi immer wieder in seinen Bann.

Nein, diese Interpretation hat nichts mit der oft beschriebenen Hell-Dunkel-Studie zu tun. Sie präsentiert sich beim Musikfest Berlin, wenn auch durch Titelung nächtens angesiedelt, als prachtvoll buntes, überaus flirrendes und plastisches Klanggemälde, das die Phantasie zu vielen Assoziationen und Emotionen beflügelt.