Dominik Graf „Jeder schreibt für sich allein“ 

Filmkritik "Jeder schreibt für sich allein" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Lupa Filmproduktion in Koproduktion mit RBB und ARTE

Anatol Regnier selbst wird zu Dominik Grafs wichtigstem Protagonisten. In den Marbacher Archiven sucht und findet der Autor Dokumentationsmaterial, um die Biografien von Gottfried Benn, Hans Fallada, Erich Kästner, Jochen Klepper, Ina Seidel und Will Vesper zu rekonstruieren, nicht aus der heutigen Perspektive der Wissenden, sondern aus der Perspektive, in der diese Schriftsteller die problematische Zeit des Nationalsozialismus erlebten.

Poetisch beginnt der Film, der dieses Jahr erstmals während der Berlinale gezeigt wurde, mit der Vision vom „Deutschen Klang“, einem raffinierten Manipulationsslogan, dem sich alle zu unterwerfen hatten. Als Rahmenthema spürt Dominik Graf der viel diskutierten Frage nach, ob es das Böse an sich gibt. Waren die Nationalsozialisten allesamt Bösewichte? 

Der US-Psychiater Douglas M. Kelley sollte anhand der Rorschachtests den Geisteszustand der NS-Hauptverbrecher der Nürnberger Prozesse untersuchen. Die Auswertung erfolgte nie, weil nicht gefunden werden konnte, was man erwartete. Die Schwarz-Weiß-Zeichnung von Böse und Gut funktionierte nicht. Nationalsozialisten waren keineswegs generell böse, keine Monster, sondern wie die Gesellschaft eine bunte Mixtur unterschiedlichster Typen.

Entsprechend facettenreich entfalten sich die Biografien der sechs recherchierten Schriftsteller. Mit dem Buchtitel „Jeder schreibt für sich allein“ bringt Anatol Regnier seine Recherchen über die SchriftstellerInnen im Nationalsozialismus ohne Ressentiment, ohne Schuldzuweisung auf den Punkt. Der Film kontrastiert abgesehen von Gottfried Benns Kontroverse mit Thomas Mann wenig, zielt vielmehr auf die Graustufen zwischen Anerkennung und Ablehnung und fragt immer wieder, wie  man selbst reagiert hätte. Diese Frage taucht immer wieder auf.

Gottfried Benn war als Nietzsche-Anhänger glühender Nationalsozialist und sah durchaus Karrieremöglichkeiten im nationalsozialistischen System, aber auch seine Bücher wurden wie viele andere verbrannt, worauf er sich in die innere Emigration zurückzog. Hans Fallada wurde unter dem Nationalsozialismus berühmt, erzielte die höchsten Verkaufszahlen, musste aber zunehmend auf leichte Unterhaltungsthemen ausweichen. Inhaftiert wurde er nicht wegen seiner Romane, sondern weil ihm bei einem Streit mit seiner geschiedenen Ehefrau ein Schuss in den Tisch als Tötungsmotiv ausgelegt wurde. Ina Seidels Roman „Das Wunschkind“ wurde aus den Bibliotheken entfernt, weil es zu pazifistisch war. Trotzdem war sie dem Führer nach einer persönlichen Begegnung regelrecht verfallen. Sie dichtete eine „Hymne“ auf ihn, die ihren Ruf über den Zweiten Weltkrieg hinaus ruinierte. Will Vespers Hitler-Hymnen wurden für seinen Sohn Bernward ein schweres Erbe, an dem dieser sich sein kurzes Leben lang abarbeitete. Mit 31 Jahren beging er Selbstmord. Seine Freundin, RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, besuchte danach mehrmals Will Vesper. Dominik Graf nutzt diese biografischen Details, um die Nähe von Rechts- und Linksradikalismus zu zeigen. Beide Denkrichtungen verweigern die Ambivalenz des Menschen anzuerkennen, womit Graf wieder zur Ausgangsthese zurückkehrt, dass das Gut-Böse-Modell nicht greift. Die Wut über die Eltern bewirkte in der Nachfolgegeneration, es anders und besser machen zu wollen, wobei sich die RAF der Empathielosigkeit der Nazis annäherte. Der Nationalismus war wie ein Virus, das die nachfolgende Generation ansteckte. In diesem Kontext wird auch der Selbstmord Douglas M. Kelleys mit Zyankali aus einer Kapsel, die er aus Nürnberg mitgebracht hatte, zum Symbol der großen, schwer heilenden Wunde, die der Nationalsozialismus verursacht hatte.

Mit fast drei Stunden Länge und Schwerpunkt Literatur kann der Film keine große Breitenwirkung erzielen, wäre aber gerade in der aktuellen politischen Situation lohnend gesehen zu werden.

Künstlerisches Team: Dominik Graf (Drehbuch, Regie),  Konstantin Lieb (Drehbuch), Markus Schneider (Kamera)

Mit: Anatol Regnier, Florian Illies, Géraldine Mercier, Albert von Schirnding, Christoph Stölzl, Henrike Stolze, Günter Rohrbach, Gabriele von Arnim, Julia Voss, Willy Kristen, Wendelin Neubert, Carlo Paulus, Simon Strauß, Clemens von Lucius, Lena Winter