Berlinale – Sektion Wettbewerb – „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“

Filmkritik "Irgendwann werden wir uns alles erzählen", Berlinale, präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Pandora Film, Row Pictures

Maria schwänzt die Schule und liest lieber Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“. Im Dachboden von Johannes Eltern haben die beiden ihr Liebesnest. Sie verpasst nichts in der Schule. Die meisten Stunden fallen aus, weil die Lehrer in den Westen wandern. Johannes macht Abitur und will weg, um Kunst zu studieren. Marias Mutter ist arbeitslos, weil der Betrieb in Konkurs ging. Ihr Vater will eine 25-jährige Russin heiraten. Als Johannes ältester Bruder nach vielen Jahren der Trennung zu Besuch kommt, prallen Meinungen über den Ausverkauf der Ex-DDR und Chancen aufeinander. 

Marias Leben verändert sich auf einer ganz anderen Ebene, als sie Henner begegnet. Ein Blick, eine Berührung genügen, um gegenseitig ihre Seelenverwandtschaft zu erkennen. In seiner männlich kargen Aura wirkt Henner wie eine Figur aus Dostojewskis Romanen, der angezogen von Marias mädchenhafter Weiblichkeit seine Kontrolle über sich selbst verliert. Sein Herz begehrt sie und er bekommt sie, weil sie ihn will.

In dialogischer Lakonie, mit Versen von Georg Trakl und langen ruhigen Einstellungen fängt die Kamera diese Leidenschaft ein, die Schönheit der Körper, die ungezügelte Lust nach Vereinigung, eine Gratwanderung zwischen zarter Berührung und brutalem Besitzen, exzellent von Marlene Burow und Felix Kramer gespielt. Henner weiß um seine Abgründe, nicht umsonst ist sein Hof so verkommen. Mutig zieht er die Konsequenzen, um Maria vor sich zu schützen. Das Epos einer großen romantischen Liebe endet wie bei Dostojewski tragisch. „Und irgendwann werden wir uns alle wiedersehen“ zitiert Maria mit Blick in die Ferne „Die Brüder Karamasow“. 

Emily Atef präsentiert weder Kitsch noch Klischee. Diese fulminante Liebesbeziehung wird unter ihrer Regie im Nachgang zur Metapher für die gesellschaftliche Euphorie der Wende, die durchaus ihre individuellen Opfer gefordert hat. Gleichzeitig gelingt es Emily Atef deutsche Landschaften mit hollywoodmäßiger Weite und menschliche Beziehungen durch einen wunderbaren Sound ins Bewusstsein zu bringen. „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“, ist ein gelungener Heimatfilm der ganz anderen Art. 

Künstlerisches Team: Emily Atef (Regie, Drehbuch), Daniela Krien (Roman, Drehbuch), Armin Dierolf (Kamera) Christoph M. Kaiser, Julian Maas (Musik), Kai Tebbel (Soundesign)

Besetzung: Marlene Burow (Maria), Felix Kramer (Henner), Cedric Eich (Johannes)