Berlin – Sektion Berlin Special – Lars Kraume „Der vermessene Mensch“ erhellt die Gräuel deutscher Kolonialgeschichte

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©Studiocanal

Alexander Hoffmann will wie sein Vater, Ethnologe der ersten Stunde, die Welt besser verstehen lernen. An der Berliner Universität beweist er anhand der Vermessungen der Herero, dass es keine evolutionären Unterschiede zwischen weißen und schwarzen Rassen gibt, diese vielmehr auf soziale, bildungsmäßige und ökonomische Bedingungen zurückzuführen sind. Er macht sich mit diesen Ansichten keine Freunde. Seine Professur rückt in die Ferne, eine anvisierte Einheirat in den Adel platzt, aber er bewirkt, als die Herero einen Aufstand gegen die Deutschen planen, eine Genehmigung als Ethnologe an einer Expedition in das damalige Deutsch-Südwestafrika unter dem Schutz der kaiserlichen Armee teilzunehmen, um seine These von der Gleichheit der Rassen zu untermauern. Er hofft dabei die Herero und Nama wieder zu treffen, die gegen ihren Willen an der Teilnahme zur Völkerschau gezwungen und vermessen wurden, insbesondere Kezia Kambazembi, die Dolmetscherin dieser Delegation. 

Mit Alexander Hoffmann erlebt der Zuschauer die Gräueltaten der kaiserlichen Armee, die jegliche Friedensverhandlungen ablehnen, die Dörfer niederbrennen, selbst unter Schutz stehende Missionen verwüsten, die Menschen in die Wüste jagen, Frauen und Kinder rücksichtslos niederschießen und die Gefangenen bereits in das erste deutsche Konzentrationslager in Deutsch-Südwestafrika stecken. Alexander Hoffmann weigert sich Menschen zu töten, aber in seiner Wissensgier verliert er jeglichen Respekt vor der fremden Kultur, wie es ihm Kezia Kambazembi erklärt hat. „Unsere Ahnen sind immer mit uns. Die Lebenden dienen den Toten“. Wenn auch unter Gewissensbissen eignet sich der Ethnologe die Kultschätze der Herero an, schändet sogar deren Gräber. Kistenweise lässt er ältere Schädel nach Deutschland zum Vermessen bringen. Als er Kezia Kambazembi auf Shark-Island in einem Konzentrationslager völlig abgestumpft beim Schrubben der Totenschädel wiederfindet, rennt er besinnungslos weg, kehrt nach Deutschland zurück, passt sich der rassistischen Ideologie an, bekommt eine Professur und wird über die Wissenschaft intellektueller Mittäter über seine Zeit hinaus, indem er die Rassimus-Ideologie wissenschaftlich unterstützt.

Lars Kraume vermeidet große Tiraden. Emotionalisierung durch Nebenhandlungen, baut nur kleine atmosphärische Details ein, z. B. Kezia Kambazembis Gefühl für  deutsche Poesie, den tödlichen Biss einer schwarzen Mamba, der arg elegante Missionar im noblen Umfeld,  bleibt aber trotz alledem immer ganz am Thema. Er lässt die Bilder sprechen, um Vorurteile vorzuführen und gleichzeitig zu entkräften, wenn die Schwarzen wie wilde Tiere in der Völkerschau vorgeführt werden und parallel dazu eine Delegation der Herero in Anzügen wie Gentlemen auftreten. Kezia Kambazembi, die als einzige Deutsch kann, agiert als Dolmetscherin klug und sensibel, spricht mit Alexander Hoffmann auf Augenhöhe. Immer wieder fokussiert die Kamera auf die Schädel als Leitmotiv, auf die endlose Weite der Wüste, die die Vergänglichkeit des Menschen deutlich macht und durch den Sound, die sonoren,  tiefen Cellotöne, markante Arpeggios und fragilen Dissonanzen der Streicher und das Knacken der Knochen beim Enthaupten intensiviert werden.

Sätze haben in diesem Film oft charismatischen, aber auch dramaturgischen Charakter. Sie spitzen die Situationen und Charaktere zu, wobei der Gehorsam im militärischen Bereich emotionales Empfinden nur für Bruchteile von Sekunden erlaubt. Ohne Glauben, nur dem rational wissenschaftlichen Denken verpflichtet, von der ihn überfordernden Situation regelrecht traumatisiert, verliert der junge Wissenschaftler Alexander Hoffmann, von Leonard Scheicher sehr differenziert dargestellt, sein idealistisches Charisma und wird Teil der Allianz der Mächtigen. Doch Lächeln kann er nicht mehr. Ausdruckslos blickt er vor sich hin als er final die Ergebnisse seiner frühen Forschungsjahre aus der Publikation der wissenschaftlichen Vorträge reißt.

So erklärt der Film nicht nur die Hintergründe, warum die deutsche Kolonialgeschichte der Beginn des rassistischen Holocaust ist, sondern auch den Persönlichkeitswandel von an sich integren Menschen, denen der Boden angesichts der gesellschafts-politischen Umstände unter den Füßen weggezogen wird. 

„Der vermessene Mensch“ wird nächste Woche in Namibia gezeigt. Wenn er Ende März in die deutschen Kinos kommt, wird er sicher viele Gesprächsrunden provozieren.

Künstlerisches Team: Lars Kraume (Drehbuch, Regie), Jens Harant (Kamera), Christoph M. Kaiser, Julian Maas (Musik), Stefan Soltau (Sound Design, Ton), Esther Walz (Kostüme) Peter R. Adam (Schnitt) 

Besetzung: Leonard Scheicher (Alexander Hoffmann), Girley Charlene Jazama (Kezia Kunouje Kambazembi), Peter Simonischek (Professor von Waldstätten, Sven Schelker (Oberleutnant Wolf von Crensky) Max Koch (Korporal Kramer), Ludger Bökelmann (Fähnrich Hartung), Leo Meier (Bernd Wendenburg), Anton Paulus (Friedrich Maharero), Tilo Werner (Missionar Kuhlmann), Corinna Kirchhoff (Henriette Hoffmann), Holger Hartl (Produktionsleitung)