Harald Martenstein, Lorenz Maroldt „Berlin in 100 Kapiteln… von denen leider nur 13 fertig wurden“ als  ironische Berlin-Hommage 

Rezension von "Berlin in 100 Kapiteln" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Ullstein Verlag

Harald Martenstein und Lorenz Maroldt erleben als langjährige Kolumnisten des Berliner „Tagesspiegel“ Berlin als „Ins Scheitern verliebt“. Nicht dass es die Probleme um verkorkste Bauvorhaben, verstopfte Straßen, Müllchaos, schleppende Bürokratie nicht anderswo auch gäbe, aber Berlin glänzt mit Superlativen von allem und von allem zuviel. 

Dennoch ist Berlin wie ein Magnet durch seine unglaublich vielseitige Kultur, die intellektuelle Offenheit, das wunderschöne Seenumland die großzügigen Altbauwohnungen, zwar teuer, doch lange nicht so teuer wie in Paris oder London.

Berlin lässt keinen mehr los. Selbst der einflussreiche Kunstkritiker Karl Scheffler, der 1920  in seinem Buch „Berlin“ nur kritisierte, „Berlin ist verdammt immer nur zu werden und nie zu sein“, kam nach seiner Kaltstellung durch die Nazis wieder zurück. Allerdings fehlten Berlin, nachdem die jüdischen Familien  vertrieben und vernichtet worden waren, der soziale Kitt, die religiöse Bindung eines starken Bürgertums. Allein die kleinen Beamten bilden eine traditionelle Basis, allerdings ohne Obrigkeit. Im ständigen Kompetenzverweisen zwischen Senat und Bezirken, ohne klare Anordnungen ducken sich die zuständigen Behörden weg. So dämmert Berlin im Status quo ohne innovative Entscheidungen dahin. 

Berlin ist kreativ, allein der wirtschaftliche Erfolg fehlt. Es ist die einzige europäische Großstadt, bei deren Verschwinden sich deutschlandweit das Bruttosozialprodukt pro Einwohner leicht erhöhen würde.

Deutlich wird dies vor allem an den großen Berliner Bürgschaftsskandalen, die die Autoren mit viel Insiderwissen u. a. an Beispielen wie der Baulöwin Sigrid Kressman-Zschach und Dietrich Garskis millionenschweren Luftschlössern darstellen. Es galt und gilt, je größer die Macht der Beschuldigten umso schneller die Einstellung der Verfahren und die Übernahme der Bürgschaften durch Berlin, sprich den Steuerzahler. 

Der Berliner an sich 

Wie der Normalberliner tickt, bringen die Autoren humorvoll während einer Silvesternacht zwischen Polizeiprotokollen und persönlichen Geschichten auf den Punkt. Zu viel haben die Berliner schon erlebt und es ging immer wieder weiter. Da wird man nicht sensibel, aber witzig. Im Ton ist der Berliner proletarisch, mit geringer Kontrollfähigkeit bei Konflikten. Das weibliche Pendant gilt als sympathischer, kämpft sich durch das Leben, frech, mit Schnauze, mitunter mit Gefühl. Als gemeinsamer Nenner bleibt, der Berliner beißt sich und grenzt nicht aus. Wer einige Zeit da ist, gehört dazu.  

Zwölf Bezirke hat Berlin, jeder hat seine spezielle Atmosphäre von spießig bis ganz abgefahren. Die meisten verändern sich stark. Dabei gilt Charlottenburg den Autoren wegen der schönen Altbauwohnungen als „womöglich die schönste Daseinsform“ in Berlin.

Das Wörtchen „bald“

Die Geschichte des Berliner Flughafens,  beweist, „bald“  kann in Berlin mehrere Jahre bedeuten. Statt Schockstarre wird gewitzelt. Die ganze Welt lacht über den BER.  Berlin lacht mit über grenzenlose Überheblichkeit, gigantische Bruchlandungen, Ignoranz, Verschwendung, Unfähigkeit, Kleingeisterei.

Richtig berlinerisch wird es bei der Schilderung der BVG und der Busfahrer, durchwegs Berliner Urgesteine mit Berliner Schnauze, die Fragen auf der wortwörtlichen Sprachebene ironisieren. „Sind sie 123?“ „Nee, 53.“ Mit ihren selbstherrlichen Egos und eigenwilligen Entscheidungen in ihrem Königreich Bus sind sie ein nicht selten beklatschtes Kuriosum. Mit schillernder Ironie betrachten die Autoren das Verkehrschaos. Berlin wird immer voller, die Verkehrswende kommt dagegen nur schleppend in Fahrt. Zumindest wurden den Fußgängern schon etwas längere Grünphasen zugestanden, die früher eher im Rhythmus der Autofahrer schlugen. Aber bis zum Ausbau der fahrradgerechten Stadt „vergehen noch ein paar Tausend Jahre“. Nicht die Fahrradwege sind lang, sondern die Verwaltungswege, da jede anvisierte Verbesserung im Sand verläuft. Dass es anders geht, bewies die Corona-Krise. Plötzlich entstanden ganz flotte Pop-up-Radwege und die Fahrradläden wurden kurzerhand als systemrelevant erklärt. 

Noch schlimmer sind die juristischen Verhältnisse. Für Oberstaatsanwalt Ralph Knipsel ist der Rechtsstaat „in weiten Teilen nicht mehr funktionsfähig“. Aus Personalmangel reicht oft die Zeit nicht für die Anklage. Bei Ordnungsmaßnahmen sind Verfahrenseinstellungen die Regel. Die Trennschärfe zwischen Polizei und Kriminellen verschwimmt. Liegt es an der Politik? Nach Wowereit wird Berlin sicher nüchterner regiert, ob besser stellen die Autoren in Frage. „Berlin ist nicht wegen der Politik so, wie es ist, sondern trotz der Politik.“

Wie wird Berlin werden?

Zwei Zeitreisen in die Zukunft versöhnen mit dem Status. Berlin als  eine sehr saubere, schöne, smart elektronifizierte leise Metropole oder im Rückblick auf die Corona-Krise 2020 ein vergammeltes Pleite-Berlin mit Sonderzonen für Reiche als Station auf der Seidenstraße mit Billigproduktion für China lassen? Bei diesen Aussichten ist Berlin, wie es eben ist, doch das Beste, was man bekommen kann. Mit ihrer amüsant schrägen Hommage treffen  Harald Martenstein und Lorenz Maroldt voll ins Schwarze.

Rezension von "Berlin in 100 Kapiteln" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Ullstein Verlag

Harald Martenstein, Lorenz Maroldt „Berlin in 100 Kapiteln… von denen leider nur 13 fertig wurden“, Ullstein Verlag, Berlin 2020, 275 S.