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Tariq Ali spricht von „konfektionierten“ Politikern, die kaum mehr Kontakt zu ihren Wählern haben. Es geht ihnen um Macht und Geld, nach der Politik um lukrative Beraterjobs. Statt Reformen voranzubringen, gibt das Kapital die Richtung vor. Jean-Claude Junkers Wahl zum Präsidenten ist symptomatisch. Er machte Luxemburg zu einer Oase für Geldwäsche und zum Steuerparadies für Reiche. Als die Immobilienblase 2008 auf Europa überschwappte, wurden Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln zugunsten der EU-Rettungsaktionen ignoriert. Die Europapolitik bewirkte, dass die Eliten das Sagen haben, die Banken Entscheidungen erzwingen und mehr als die Hälfte der Länder in der Rezession leben. Inzwischen funktioniert das EU-System in vielen Bereichen nicht mehr.
Als Metapher für den globale Kapitalismus titelt Tariq Ali seinen zweiten Essay „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“. Außerdem hebt die Bedeutung der Nationalstaaten hervor. Auf globaler und europäischer Ebene gibt es keinen Staat. Rettungspläne und Subentionsmaßnahmen werden von der EU erlassen, aber von den Nationalstaaten ausgeführt, was ständig zu Verwerfungen führt.
Wolfgang Streeck rechnet vor, wie die europäische Politik Lohnsteigerungen verhindert, Renten und Sozialausgaben kürzt, Gelder für das Gesundheitswesen zurückschraubt, der interne Anti-Europäismus zunimmt, die EU durch „unbegrenzte Geldproduktion notbeatmet“ wird und fragt, wann die Modernisierer der europäischen Südstaaten endlich einsehen, dass der Maastrichter Vertrag rückgängig gemacht werden muss.
Heiner Flassbeck polemisiert gegen Deutschlands Dominanz, seine extreme Mitte, durch deren Austeritätspolitik und Schuldenangst das falsche Design beim Maastrichter Vertrag aufgesetzt worden war. Nach Flassbeck braucht ein großer Raum wie die EU nicht Nationalökonomien, sondern den Rahmen der EZB. „Wer europäisch denkt, muss Deutschland offen und hart wegen seiner Europapolitik von gestern und heute attackieren.“
Gegen diese EU-Euphorie stellt Peter Wahl den Etikettenschwindel der neuesten festrednerischen Narrative vom „europäischen Nationalgefühl“ und „europäischen Leitbild“. Das war nie das Ziel. Selbst bei der Vision von den Vereinigten Staaten von Europa bleiben die Nationen bestehen. Die Finanzierung der Corona-Krise „ist die jüngste Eruption“ in der strukturell permanenten EU-Polykrise. Mit Nord-, Süd-, Ost-,West-, Arm-, Reichkonflikt spaltet sich die EU immer mehr, verstärkt intern die vorhandenen hierarchischen Verhältnisse und schiebt sich selbst in die Randlage angesichts einer sich völlig verändernden Positionierung der Großmächte. In diesem Kontext findet Peter Wahl europäisches Großmachtdenken unterfüttert mit traditioneller Militarisierung reichlich antiquiert. Für eine Supernation fehlt der EU das Instrumentarium und die Loyalität etlicher Mitgliedsstaaten, die schon längst auf Chinas Seidenstraße die Zukunft anvisieren. Dazu kommen noch die grundsätzlichen Unterschiede an der EU-Spitze zwischen Frankreich und Deutschland. Für Peter Wahl müsste die Zusammenarbeit der EU-Staaten nach dem Prinzip der „variablen Geometrie“ erfolgen. Wer Ziele für die Zukunft anvisiert muss das tun können, ohne dass alle mitmachen müssen, wogegen aber weltweit Partnerländer mitmachen könnten. Damit würden Einfluss und Bedeutung der Nationalstaaten innerhalb und außerhalb der EU wieder wachsen.
Rainer Mausfeld zerlegt den heute als Pleonasmus gewöhnten Begriff „liberale Demokratie“ in seine grundlegende Widersprüchlichkeit. Sehr klar und verständlich erklärt er, wie der Weg vom Liberalismus, Basis der Geldelite, zur repräsentatíven Demokratie in einem „Unterwerfungsvertrag“ endete, der Wähler an die gewählte Oligarchie ausliefert und Demokratie zum rhetorischen Surrogat degradiert. Die Wähler übertragen damit freiwillig ihre Bedürfnisse den Mächtigen, aus deren Sicht ein optimaler Deal. An den Managern transnationaler Großunternehmen wird deutlich, wie sie sich inzwischen über jegliche demokratische Regeln hinwegsetzen können. Die Souveränität der Globalplayer schiebt demokratische Wahlen inzwischen in den Unterhaltungsbereich und liefert Demokratie als „vergesellschaftlichte Macht“ der Zersetzung aus.
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Ali, Tariq / Flassbeck, Heiner / Mausfeld, Rainer / Streeck, Wolfgang / Wahl, Peter: „Die extreme Mitte. Wer die westliche Welt beherrscht. Eine Warnung“, Promedia Verlag Wien, 2020, 152 S.