Christian Gerhaher „Lyrisches Tagebuch – Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm

Buchrezension "Lyrisches Tagebuch" von Christian Gerhaher präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©C.H.Beck, 2022

Wegen Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ wollte Christian Gerhaher Sänger werden. Für ihn sind sie das „Herzstück“ seiner Arbeit. In 14 Kapiteln reflektiert er seine Auseinandersetzung mit dem deutschen Liedgut, umrahmt vom „Vorspiel mit Tiefflieger“, das um die Seelenverwandtschaft zweier Freunde in seiner niederbayerischen Heimat in Straubing kreist und dem „Nachspiel mit Stifter“, dessen Arbeitsweise der steten Vervollkommnung ihn faszinierte. Wie Stifter an der „Mappe meines Urgroßvaters“ sehr lange arbeitete, sammelte Christian Gerhaher die Erfahrungen seiner 22-jährigen Sängertätigkeit in seinem „Lyrischen Tagebuch“. Die Texte sind analog zu Stifters Mappe eine „Methode fortgesetzter Selbsterkenntnis und -verbesserung“ nicht im Sinne einer Selbstoptimierung, sondern als Reflexion der Bedeutungssuche seiner täglichen Arbeit, geschrieben in ganz unterschiedlichen europäischen Orten und Jahren, wodurch sich die chronologische Strukturierung des Inhaltsverzeichnisses und ganz bewusst inhaltliche Überschneidungen in ihrer Entwicklung ergeben. 

Freimütig offeriert Christian Gerhaher seine innersten Gedanken bezüglich Gedichtinterpretation und Vortragsweise. Sehr detailliert analysiert er berühmte und weniger bekannte Lieder. Er beginnt mit den drei renommiertesten Liedkomponisten, mit Robert Schumann, Franz Schubert  und  Gustav Mahler. Dann weitet er die Perspektive auf zwei Opern, Mozarts „Don Giovanni“ und Holligers „Lunea“. Dabei kristallisiert sich immer stärker heraus, worauf es Christian Gerhaher letztendlich ankommt. Für ihn sind die Lieder weder Miniopern noch Balladen, denn das eigentliche Drama wird nicht erzählt. Lieder sind Gedichte, neigen mehr zur Abstraktion als zur gelebten Wirklichkeit und zu starker Verinnerlichung. Das Innenleben der Texte mit Ahnungen und Handlungsplittern, die sich der Logik verwehren, spielt die entscheidende Rolle und wird ganz individuell rezipiert. Wo Worte fehlen, helfen die Töne, wobei die Gewichtung mitunter sehr unterschiedlich ausfällt und auch von nationalen Entwicklungen geprägt sein kann. Das Ziel von Christian Gerhahers Liedpräsentationen ist „expressive Intimität“. Aufführungen mit Orchester sieht Christian Gerhaher problematisch, da dabei der Gesang leicht untergeht. Seine Erfahrung ist, dass das Publikum bei einem Liederabend das Orchester nicht vermisst. 

In jedem Kapitel sorgt Christian Gerhaher aufgrund seiner großen Erfahrung, seines großen Wissens und ständigen Hinterfragens für interpretatorische Überraschungen. Seine Maxime ist das „Immer-wieder-neu-Denken“, wobei er bekennt, dass ihm die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung des wohl berühmtesten Liederzyklus, Schuberts „Winterreise“, immer noch nicht gelungen ist. Sie führt aber eindeutig weg von der traditionellen Rezeption personalisierter Überemotionalisierung und zielt auf Typologie eines Krisenzustandes im Sinne eines Kreuzgangs in christlicher Verankerung.

Jedes Programm wird zusammen mit Gerold Huber sorgfältig zusammengestellt. Schon durch die Auswahl, zuweilen durch Zufall entstehen wie in einer Bilderausstellung neue Synergieeffekte durch musikalische Motivik und symbolische Zusammenhänge. Man bekommt sehr große Lust Christian Gerhaher und Gerold Huber live zu erleben.

Christian Gerhaher: „Lyrisches Tagebuch – Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm“, C. H. Beck Verlag, München 2022, 344 S.