Friedrich Christian Delius „Die sieben Sprachen des Schweigens“

Buchkritik "Die sieben Sprachen des Schweigens" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Rowohlt-Verlag

Warum ist dieses erzählerische Ich, natürlich ein bekannter Buchautor, so schweigsam und warum trägt er immer so eine unmögliche bunte „Jerusalemer Krawatte“, so der Titel der ersten Geschichte? Der Vater kam als Kriegsheimkehrer nach Hause, drängte sich zwischen Mutter und Sohn und ließ den Sohn durch seine Strenge Gottes Unerbittlichkeit fühlen. Wie konnte Gott Abraham das unmögliche Opfer abverlangen seinen Sohn Isaak zu töten? Doch war nicht der Gott des Alten Testaments viel gütiger als der Gott des Neuen Testaments, der seinen Sohn tatsächlich opferte? Erst als der Autor bei einer Lesung in Jerusalem diese Problematik aus der Perspektive eines 11-jährigen Jungen thematisiert und dafür bejubelt und eben mit dieser ungewöhnlichen Krawatte beschenkt wird, findet er seinen Seelenfrieden und kann seine Schweigsamkeit durchbrechen. 

Ganz anders gestaltet sich das Schweigen in der titelgebenden Geschichte. Bei einem schweigsamen Spaziergang mit einem jüdischen Holocaust-Überlebenden Imre Kertész verwischen Gegenwart und Vergangenheit. Aus Respekt fragt der Erzähler nicht nach den historischen Details, die Menschen von diesem Überlebenden ständig wissen wollen, u. a. um Quoten zu erzielen und ein Publikum durch die Multiplizierung von Grausamkeiten zu unterhalten. Wäre es als Ziel nicht besser, in einer Welt, wo das Prinzip des Bösen regiert, zu zeigen, dass das Gute getan werden kann? „Diese Revolte der Nachsicht hätte eine kopernikanische Wende sein können“. Das Schweigen allein erscheint in dieser kleinen alltäglichen Episode als Zeichen menschlichen Respekts und stillen Einvernehmens. 

Auf einer Intensivstation nahe am Ersticken statt auf der geplanten Geburtstagsfeier bekommt das Schweigen existentielle Symbolik. Der Mensch degradiert durch Krankheit, dessen Virus nicht mehr benennbar ist, aber natürlich Covid meint, zum hilflosen Wesen, das sich nicht mehr mitteilen kann. Zwischen Halluzinationen und Halbrealitäten verwandelt sich das Umfeld der Krankenwelt, in ein bewusstseinserweiterndes Hörspiel, in dem der Kranke selbst als Regisseur agiert, das in einen stimmlosen Kerker mutiert. Der Schluss überrascht trotz des vorausweisenden Titels „Lebensanzeige oder Die Stimmlosigkeit der Stimmbänder“. Statt Knockout gesundet das erzählerische Ich. Das Sprechen gewinnt an Bedeutung gegenüber den „Sieben Sprachen des Schweigens“.

Friedrich Christian Delius, 1943 in Rom geboren, in Hessen aufgewachsen, lebt seit 1963 in Berlin. Durch seine Erzählungen und Romane, die trotz der ganz speziellen Themen durch seine magische Sprachkraft in ihren Bann ziehen, avancierte er zu einem der bedeutendsten deutschen Gegenwartsautoren. Er wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt.

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Friedrich Christian Delius „Die sieben Sprachen des Schweigens“, Rowohlt Verlag, Berlin 2021, S. 187