"Kultur macht glücklich"


Rainer Mausfeld „Hybris und Nemesis“ – ein Zivilationsporträt

Veröffentlicht am:

von

Rainer Mausfeld „Hybris und Nemesis“ – ein Zivilationsporträt

©Westend Verlag, 2023

Macht drängt nach mehr Macht, Reichtum nach mehr Reichtum. Dabei entwickelt sich immer wieder eine Dynamik, die den Zusammenhalt einer Gesellschaft gefährdet und mitunter zerstört. Dieses Phänomen, das viele Menschen unserer Zeit sehr beunruhigt, analysiert und belegt Rainer Mausfeld quer durch die Zivilisationsgeschichte. 

Beginnend mit dem Schritt vom Jäger und Sammler zum sesshaften Bauern wurde der Besitz sehr bedeutend. Die Besitzenden begannen die Lebensbedingungen der Masse zu bestimmen. Schon zur Zeit von Solon (630 – 560 v. Chr.) und Kleisthenes (570 – 507 v. Chr.) herrschten entsetzliche Lebensbedingungen für den Großteil des Volkes. Einzelne Großgrundbesitzer brachten viele Kleinbauern in die Überschuldung. Der Schritt von der Schuldknechtschaft in die Sklaverei und zum Menschenhandel war klein. 

Deshalb spürt Rainer Mausfeld in „Hybris und Nemesis“ der Einhegung der Macht nach. In der egalitären Leitidee der Demokratie sieht er das bedeutendste Schutzinstrument Macht zu zivilisieren. Entlang historischer Linien belegt er, wie der Begriff der Demokratie seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt wurde und heute als Demokratierhetorik für Herrschaftszwecke missbraucht wird. Dadurch ist es in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Entzivilisierung von Macht gekommen, deren psychische, gesellschaftliche und ökologische Auswirkungen die menschliche Zivilisation insgesamt bedrohen. Das Immer-mehr-haben-wollen zieht sich als anthropologische Konstante durch seine Argumentation. Er zeigt aber auch positive Beispiele. 

Dem athenischen Staatsmann und Lyriker Solon gelang die Kontrolle der Besitz- und Machtelite durch die Abschaffung der Schuldknechtschaft. Das besitzlose Volk konnte unter der demokratischen Staatsform entscheiden. Jahre der Blüte folgten. Andere gelungene Beispiele der Elitenkontrolle findet er in China und Südamerika. Wird dagegen die Elite sich selbst überlassen, hat sie keine Gegenmacht, verkommt sie und den Staaten droht Verfall durch Elend oder Krieg.

Rainer Mausfeld bringt auch die Philosophen mit ein, die sich mit dem Wechselspiel von Macht und Besitz beschäftigen. Herodot, Thukydides, Platon, Aristoteles, Hobbes und Rousseau suchten bereits nach einer wirksamen Gegenmacht. Selbst Machiavelli, ein eher verrufener Diener der mächtigen Fürsten machte sich tiefgründige Gedanken, wie Adels- und Machtelite zu zähmen sei. 

Das Resümee für Rainer Mausfeld ist die Macht in der Hand des Volkes als Gegengewicht zur Elite. Nur dann kann Demokratie gelingen.

Vor diesem Hintergrund wird der Verfassungskonvent in den USA 1787 sehr fragwürdig. Mitglieder des geheimen Treffens in Philadelphia waren 55 Männer der Elite, davon jeder Großgrund- und Sklavenbesitzer oder hoher militärischer Funktionsträger, Rechtsanwalt oder Industrieller aus 12 der 13 Gründerstaaten.  Es war weder ein eFrau, noch ein weißer Arbeiter noch ein Sklave dabei. Von Anfang fehlte also in der amerikanischen Verfassung das Gegengewicht. Ziel war nicht die Demokratie, sondern eine kapitalistische Gesellschaftsordnung. Die Konstitution einer parlamentarischen Demokratie hielt den nötigen Abstand zu einer echten volksbasierten Demokratie.

Nur 11 Jahre später startete die französische Revolution 1799 unter dem Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ einen Demokratisierungsversuch. Die Antwort war Kaiser Napoleon. Erst im 20. Jahrhundert verwandelten sich die europäischen Monarchien in Demokratien. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewinnt die Ökonomie immer mehr Einfluss auf die demokratischen Einrichtungen. Ende der 1970er Jahre gewinnt das Kapital unter dem englischen Thatcherismus und US-amerikanischen Reaganomics zunehmend Einfluss auf alle Lebensbereiche und Institutionen der demokratischen Staaten.

Sehr ausführlich beschreibt Rainer Mausfeld die heutigen Mechanismen, mit denen eine sehr kleine Elite der Medien- und Kapitalbesitzer das Bewusstsein und die Urteilsfähigkeit der Bevölkerung nach Belieben steuert. Wichtige Strategie ist dabei die Menschen ständig in Angst zu versetzen.

So umfangreich „Hybris und Nemesis“ auch recherchiert ist, es fehlt ein Kapitel. Warum das Beispiel der basisdemokratischen Schweiz nicht erwähnt wird, überrascht. Die vielen Volksentscheide in den einzelnen Kantonen stellen ein echtes Gegengewicht zur Elite dar. Hier hat das Volk eine reale Mitwirkungs- und Entscheidungskompetenz.

„Hybris und Nemesis“ ist allen LeserInnen zu empfehlen, die nach einem vertrauenswürdigen Kompass in den Wirrnissen unserer Gegenwart suchen.

Rainer Mausfeld „Hybris und Nemesis“, Westend Verlag, Neu-Isenburg 2023, 510 S.