München – Albert Ostermaiers „Superspreader“ im Residenztheater

Theaterkritik von Ostermaiers "Superspreader" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Residenztheater München/Albert Ostermaier

Immer ganz nah vor der Kamera, immer wieder verzerrt durch Fischaugenoptik zieht Florian Jahr durch seine schauspielerische Präsenz als Superspreader unter der dezenten Regie von Nora Schlocker in seinen Bann. Erst seit einem Jahr am Residenztheater, aber mit 18 Jahren Film- und 12 Jahren Bühnenerfahrung, kann er Ostermaiers komplexe Assoziationen zwischen den Eckpunkten eines smart überlegenen Unternehmensberaters und eines panisch ausrastenden kleinen Handlungsreisenden mit enormer mimischer Wandlungsfähigkeit sehr stimmig mit  Tiefgang umsetzen. Im Hintergrund sind Fenster und ein Waschbereich zu sehen. Es kann ein einfaches Hotelzimmer sein, genauso irgendein anderes schlichtes Appartement, in dem der Superspreader isoliert wird oder einen selbst gewählten unauffälligen Rückzugsort gefunden hat. 

Ständig zwischen Macher- und Opferrolle kreisend, durch Lichtschattierungen (Licht Georgij Belaga) von einer in die andere Existenz katapultiert macht Florian Jahr Ostermaiers  inhaltlich und rhetorisch vielschichtigen Text, teilweise ironisch im hippen Managerslang, mit aufblitzender Rollendistanz Schritt für Schritt transparent. Florian Jahr weiß den Monolog vorzüglich zu rhythmisieren, mit der Sprache der Blicke, zu kommunizieren. Via Kamera und hypnotischem Blick kommt der Superspreader dem Zuschauer bedrohlich nah wie ein Virus, aber ein Denkvirus, der Klischees aufbaut, um sie einzustürzen.

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©Residenztheater München/Albert Ostermaier

In seinen Allmachtsphantasien wird der Superspreader zum perfiden Superberater der eine ganze Zivilisation zerstören kann. Er „setzte auf Leerstände, und jetzt ist alles leer.“ Mehr noch, er ist selbst das Virus, das überall klebt, die Kühle Desinfektionsmittel liebt und Atemnot wie in einem Horrorfilm simuliert. Seine Motive sind unterschiedlich. 

In den Erinnerungen ist er als nicht geliebtes Kind der Kälte ausgesetzt und „kalt geknutscht“. Er erkennt „Lächerlichgemachtwerden ist Vernichtung, Lächerlichmachen Mord“. Für die Mutter war er der Sündenbock, weil sie wegen der Schwangerschaft den falschen Mann heiratete und sich ihre Traumexistenz verbaute. Ein Bettnässer war er, der keine Widerrede leistete, obwohl er ständig für Dinge geschimpft wurde, die er nicht angestellt hatte. Er spielte nicht wie die anderen Kinder Fußball, sondern Batman, übte den bösen Blick im Spiegel über dem Waschbecken. Als „der ideale Knecht, der niemals Meister werden könne“ offeriert er sich  in der Gegenwart als unbedeutender Arbeitssklave, der vom unternehmerischen Überflieger träumt und sich mit den Argumentationen der Querdenker zum globalen Weltherrscher stilisiert. Gleichzeitig tritt er als Rächer der von Menschen malträtierten Natur auf, die jetzt zurückschlägt und die Zivilisation auslöscht. Ostermaier spart nicht mit verbalen Ironismen, die Florian Jahr wirksam in Szene setzt. Eine Reisereportage in der Hand enthüllt der Superspreader genüsslich sein Sonnenbad in der Masse. Auf dem Markt mit all seinen geschlachteten Tiere, man assoziiert natürlich Wuhan, wird klar, Natur ist per se eine biologische Waffe und hat mehr zu bieten als jedes Labor. Man kann nachvollziehen, warum sich dieser Superspreader mit Benzin überschüttet.

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©Residenztheater München/Albert Ostermaier

Aber  er fackelt sich nicht ab wie ein Terrorist. Er fungiert als Fackel, Projektionsfläche, was alles falsch läuft in unserer gewinnsüchtigen Welt, in der die Humanität des Menschseins verloren gegangen ist. „Der Kapitalismus ist nicht eine Krankheit, ist die Krankheit.“ Dieser Superspreader, als Vertreter des kapitalistischen Systems, macht aus allem eine Null, so die  Botschaft Ostermaiers, und agiert wie Gott „Ich bin der Anfang und das Ende.“ Diesem Virus kann sich keiner entziehen, signalisiert Florian Jahr, wenn er  überraschend einen finalen Kuss auf das Objektiv der Kamera drückt. Dass der Virus eine Chance für den Neuanfang ist, klingt nur ganz lapidar zwischendurch an. 

Die Inszenierung beweist, dass Theaterstücke durchaus auch digital funktionieren, besser für die Zuschauer als für die Schauspieler. Auch Florian Jahr vermisste, wie er im anschließenden Chat bekannte, die Aura im Theater, umgekehrt wurde er von den Zuschauern ganz nah erlebt. Der Live-Stream für 15 Zuschauer ist natürlich ein absolutes Exklusiv-Erlebnis, das sich nur ein Staatstheater wie das Residenztheater leisten kann.