1943 schrieb Jean-Paul Sartre „Geschlossene Gesellschaft“. 1944 wurde das Stück aufgeführt. Mit „Die Eingeschlossenen“ und „Das Spiel ist aus“ gehört es zu Sartres berühmten theoretischen Situationstheatern, in denen er die Thesen seiner existentiellen Philosophie auf die Bühne brachte. Das klingt und ist intellektuell anspruchsvoll und trotzdem entwickelt das Stück unter der präzisen, sehr empathischen Personenregie von Reinhart Hoffmann einen überaus tiefgreifenden Spannungsbogen. Um etwa 10 Minuten und um Sartres weniger bühnenfreundliche Formulierungen gekürzt offeriert der Einakter eine rasante Dichte, die den Zuschauer in seine eigenen existentiellen Abgründe blicken lässt.
Ein mysteriöser Diener, Richard Marx spielt ihn als dümmlich, schmierigen Schergen der Hölle, arrangiert zur smarten Musik beschwingt tänzelnd die wenigen Requisiten. Erst beim Schlussapplaus gibt er mit gelüfteter Melone seine mephistophelischen Hörner preis, eine spontan witzige Geste der letzten Vorstellung, die dem Ernst des Stücks ein spielerisch ironisches i-Tüpfelchen verleiht.
Es ist weder ein Zufall noch ein Versehen, dass ausgerechnet der Journalist Garcin, die hübsche reiche Estelle und die lesbische Postbeamtin Ines in diesem Raum aufeinandertreffen. Sie haben ihren Spaß im Leben gehabt auf Kosten der andern. Sie sind Tote und dennoch Untote, nicht im Sinne von Zombies aus einstigen und heutigen Horrorgenres, sondern als Symbole von Sartres existenziellem Kernsatz „Die Hölle, das sind die anderen“. Und Reinhart Hoffmann schafft noch mehr Nähe. „Die Hölle, das sind wir.“
©Theater Nikola
Schnell begreifen die drei, dass sie wegen ihres Lebensstils in der Hölle sind. Es gibt weder Folterwerkzeuge noch Folterknechte. Die sind sie selbst durch ihre Lebensschuld, die sich nach und nach herauskristallisiert.
Sehr nachdenklich und überzeugend spielt Josef Reindl diesen Garcin, der sich brüstet als kritischer Journalist erschossen worden zu sein und doch nur ein feiger Macho war, der seine Frau ständig betrog, seelisch derart malträtierte, dass sie sich umbrachte. Sein weibliches Pendant ist Gabi Butz als lesbische Ines. Mit ihrem analytischen Intellekt weiß sie die Menschen zu manipulieren. Knallhart sieht sie die Menschen, so wie sie es will. Sie warb dem Cousin die Frau ab, die sich und Ines aus Schuldgefühlen vergaste, als der Vetter von der Straßenbahn überfahren wurde. Hinter der schönen Estelle lässt Ina Lehmann grandios die kaltblütige Kindsmörderin aufleuchten, die auch noch ihren Geliebten in den Tod getrieben hat. Ihr Spiel zwischen naiver Weiblichkeit, ständigem Bedürfnis, sich durch die Wahrnehmung von außen bestätigt zu wissen und den damit psychotischen Ausbrüchen ist faszinierend und gibt diesem kopfgesteuerten Stück eine rasante, überaus authentische Emotionalität mit bedeutungsvollen Blicken, flackernden Augen, verrutschter Mimik, so abgedreht, als befände man sich direkt im Irrenhaus. Wenn sich Estelle von Ines spiegeln lässt, ihre Lippen anmalt, statt furiose Erotik zu erzielen zur entgleisten Furie mutiert, wird mit einem Schlag deutlich, was Sartre mit der „Abhängigkeit vom Blick des anderen“ meint. „Es gibt keine Natur des Menschen, die den Menschen festlegt, sondern der Mensch ist das, wozu er sich macht.“
Die hochintellektuelle Ines bringt die Situation immer sehr schnell auf den Punkt. Als gegenseitige Folterknechte sind sie in dieser Hölle. Die Solidarität hält in dieser geschlossenen Gesellschaft deshalb nur kurz an. Jeder ist sich selbst der nächste und keiner kann damit Retter des anderen sein. Sie können die existentielle Art ihres Seins selbst als Tote nicht abstreifen und quälen sich so, wie sie einst ihre Partner gequält haben in schmerzvollen Dreiecksbeziehungen. Ihre Notgemeinschaft können sie nicht durchbrechen. „Geschlossene Gesellschaft“ endet abrupt als eingefrorene Pose, abgedunkelt, dann im Feuerschein der Hölle. Chapeau!
©Michaela Schabel