Landshut – Igor Bauersimas „norway.today“ in den Kammerspielen

Theaterkritik "norway.today" in den Kammerspielen Landshut präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Kammerspiele Landshut, Foto: Klein

1988 wurde der Chat technisch erfunden. 2000 schrieb Igor Bauersima „norway.today“ nach einer wahren Begebenheit, die im gemeinsamen Selbstmord endete und als abschreckendes Beispiel für digitale Beeinflussung junger Menschen galt. Das Stück wurde begeistert rezipiert, eben nicht als Anleitung zum Selbstmord, sondern als Gegenmittel. Wie die Namen Julie und August schon verraten, erleben beide umgeben von Eis und Schnee ihren ganz persönlichen Sommer, indem sie die Schönheit der Natur und in einer romantischen Nordpolarnacht die euphorisierende Kraft der Liebe entdecken. 

Fast ein Vierteljahrhundert später hat das Stück in unserer digitalisierten Lebensweise nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Unter der Regie von Odile Simon gelingt im Kleinen Theater eine konzeptionell stringente Inszenierung zwischen aufgesetzter Sinnlosigkeit und neu erlebter Sinngebung, die medial geprägte Oberflächlichkeit und dick aufgetragenes Selbstbewusstsein heutiger Influencerinnen peu à peu in poetische Strukturen auflöst. Bauersimas kalauernder Wort- und Dialogwitz steht zunächst im Mittelpunkt und überlagert vollkommen die dramatische Grundstimmung mit alltägliche Phrasen und philosophischen Einsprengseln. Julie hat keine Lust mehr auf das Leben. Sie wirkt keineswegs depressiv, zumal Kernsätze wie der Wunsch nach „einem langen Leben nach dem Tod“ keinen Raum zum Nachdenken finden, sondern zu slapstickartig witzigen Pointen im ständigen Schlagabtausch mutieren. Julie leidet zwar an der oberflächlichen Geschwätzigkeit unserer Zeit, ist aber selbst ein Paradebeispiel dafür. Laura Puscheck spielt sie entsprechend mit ausgestellter Fröhlichkeit und dem Habitus einer empathielosen Influencerin, die jedes Detail in ihrem Sinne inszeniert und August völlig dominiert. Den interpretiert Andrés Mendez mit charmanter Schüchternheit und naiver Unwissenheit als sympathischen Softie.

Projizierte Kinder- und Jugendfotos fragen, warum diese beiden jungen Menschen so todessüchtig sind. In den Zwischentönen wird bei ihm das soziale Ausgegrenztsein, bei ihr das fehlende Gefühl des beschützenden Vaters deutlich, der sie einst bei einem Ausflug vor dem Absturz auf einer Klippe rettete, weshalb die letzte Reise wieder dorthin führen soll. 

Via Projektion mit Blick auf eine grandiose Fjordlandschaft schafft Odile Simon ein naturalistisches Umfeld für die letzte Reise der beiden, untermalt von subtilen glasspielartigen Klangstrukturen, womit sich der Ausgang atmosphärisch schon anbahnt. Je mehr sich die beiden kennenlernen, umso mehr tritt der Abgrund in den Hintergrund. Der Zauber der Natur wird haptisch fühlbar. Es schneit. und als beide in ihrer letzten Nacht Nordpolarlichter erleben, funkt es zwischen ihnen. Die quirlige Fröhlichkeit weicht poetischer Innigkeit, wenn sie beschreiben, wie es wäre, wenn sie sich tatsächlich lieben würden. Das Abschiedsvideo, immer wieder neu gedreht, wird damit überflüssig. 

Künstlerisches Team: Odile Simon (Regie, Bühne) Lea Sprenger, Rosalie Feddersen (Regisassistenz), Leander Griwodz, Erika Hoecht (Video-,Tontechnik), Björn Gerum (Licht), Content Creator (Julian Herrmann), Irina Kollek (Kostüme)

Mit: Laura Puscheck, Andrés Mendez