Berliner Theatertreffen – „Das große Heft“ vom Staatsschauspiel Dresden

Theaterkritik "Das große Heft" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

Ulrich Rasche inszeniert Ágota Kristófs Roman „Das große Heft“ als  wuchtige Parabel, wie der Mensch durch Liebesentzug verrohrt.

Ulrich Rasche  beschränkt sich auf chorische Theatralik und entwickelt in der Synopse aus sich drehenden Scheiben, multiplizierten Zwillingspaaren, Lichteffekten, harten Beats und stringenter Rhythmik  einen visuell akustischen Sog, der den Körper physisch durchpulst, ungeheuer emotionalisiert und  das Leid dieser Zwillinge, ihren Wandel von naiven Kindern in rohe Erwachsene miterleben lässt. Selten ist Theater so bewegend, in der Darstellung menschlicher Ambivalenz, so unmittelbar im Mitfühlen.

Das Einzelwesen, von Ágota Kristóf als Zwilling verdoppelt, wird von Ulrich Rasche dupliziert, multipliziert. Bis zu 16 Männer marschieren in unterschiedlichsten Konstellationen vorwärts, formieren sich zu Phalangen der Gewalt, verwandeln einzeln, zu zweit, chorisch Ágota Kristófs dokumentarische kurze Sätze in eine überaus spannende, rein assoziative Erzählung. In immer neuen Wiederholungen schreien sie die individuellen Erfahrungen dieser Zwillinge hinaus in die Welt als klare Aussagesätze, die sich immer weiter von humanitären Werten entfernen.

Die Geschichte, das was im „Großen Heft“ steht, das was die Zwillinge aufgeschrieben haben, um die Wörter und die Dinge dahinter,  die sie quälen,  aus ihrem Kopf zu verbannen, wird nur erzählt und dennoch, rein assoziativ, zur Parabel der Dehumanisierung.

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©Sebastian Hoppe

Die Zwillingsbrüder kommen zur Großmutter auf das Land, weil die Mutter sie in der großen Stadt, wo der Krieg herrscht nicht mehr ernähren kann. Die Großmutter, arm, schmutzig, verwahrlost, ist feindselig, lässt die Jungen schuften, schlägt sie und unterschlägt Briefe und Pakete der Mutter. Die Zwillinge beginnen gegen das Leid zu trainieren, schlagen sich gegenseitig mit dem Gürtel, um hart zu werden, um die Schmerzen nicht mehr zu fühlen. Noch sind sie hilfsbereit gegenüber dem verkommenen Nachbarmädchen „Hasenscharte“  und ihrer verrückten Mutter, die in Wirklichkeit blind und taub ist. Das Umfeld urteilt hart und es handelt ohne Moral. Der Offizier benutzt die Juden sadomasochistisch. Der Pfarrer gibt Hasenscharte Geld gegen sexuelle Leistungen. Seine Magd kümmert sich um die durchaus hübschen Zwillinge, aber nur um deren Männlichkeit genießen zu können. Den Zug der hungernden Deportierten verhöhnt sie, indem sie das hingehaltene Butterbrot selbst isst. Für echtes Mitgefühl ist hier kein Platz. Hasenscharte lässt sich vom Hund lecken, weil keiner sie mag. Die Jungen streichen das Wort „lieben“ aus ihrem Wortschatz, weil es zu vage ist. Sie werfen die milden Gaben nach dem Betteln fort. Nur ein mitfühlendes Streicheln über die Haare bleibt, kann nicht abgestrichen werden. Echte Mildtätigkeit lernen die Jungen nur beim Schuster kennen, der ihnen warme Stiefel schenkt, weil er ohnehin bald deportiert wird.

Aus dem Masochismus der Zwillinge entwickelt sich schnell Sadismus. Vom Drangsalieren der Tiere zum Töten der Menschen ist nur ein kleiner Schritt. Genau diese Gratwanderung zwischen Mitgefühl und maßloser  Grausamkeit erlebt der Zuschauer.

Ohne genaue Ortung ist der Wandel vom Menschen zum Tier überall möglich und wird doch in dieser Inszenierung  Spiegelbild des 20. Jahrhunderts mit seinem Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust und der markanten Trennung durch den Kalten Krieg, die selbst die Einheit der Zwillinge zerbricht.

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©Sebastian Hoppe

Jeder Satz, jeder Ton, jeder Schritt zieht in seinen Bann, vergrößert sich zum großen Weltenszenario in der zwei Scheiben gegeneinander drehen, ein grandioses Bild für die Spaltung der Welt und die voranschreitende Individualisierung. Die Lautstärke wird zur Leiderfahrung. In der Gruppe verdichtet sich individuelle Grausamkeit zu militanter Energie gebrochener Menschen, eine Facette der Gegenwart.

Dennoch bleibt das gesprochene Wort im Vordergrund, großartig vom Ensemble artikuliert. Was bleibt, sind die verbalen Botschaften der Liebe, die Erkenntnis, was der Verlust geliebt zu werden bewirkt. Wie Edvard Munchs „Der Schrei“ haken sich die Sätze in der Seele fest und wirken kathartisch ganz im Sinne der antiken Tragödie.