Berlin – „Chicago“ – schmissiges Broadwaymusical in der Komischen Oper

©Komische Oper, Foto: Barbara Braun

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Die Story ist für ein Musical ungewöhnlich gesellschaftskritisch, bohrt aber nicht in die Tiefe, sondern zeigt selbst im Elend die oberflächliche Glanzseite vom kapitalistischen Traum reich zu werden. In „Chicago“ morden die Frauen die Männer, ihre Motive sind egoistisch und narzisstisch. Aber im amerikanischen Rechtssystem mit seinen Deals gelingt es dem Staranwalt Billy Flynn durch geschickte Medienmanipulationen und emotionale Schlagzeiten Freisprüche zu bewirken, vorausgesetzt die Frauen sind sexy und beherrschen die Kunst durch medienwirksame Auftritte vor Gericht das Mitleid der männlich besetzten Geschworenen und der Masse zu erregen. Über geschickt lancierte Presseberichte erbringen Spendenaktionen das nötige Geld, um Anwalt und „Mama“ zu bezahlen. 

Velma steht kurze Zeit im Rampenlicht. Dann stiehlt ihr Rockie mit der Schlagzeile „Vom Kloster in den Knast“ die Show. Als sie dann noch eine Schwangerschaft vortäuscht, ist die Freiheit in Sicht. Doch mit dem Freispruch platzt der Traum ein Star zu werden. Es gibt keine Fotos. Die Meute der Journalisten, allen voran Klatschtante Mary Sunshine jagen bereits der nächsten Mordsensation hinterher. Das Schicksal der Migrantin Hungyak wird nicht vermarktet. Sie bekommt keine neue Chance und wird gehängt, frivol angekündigt als beste Seilnummer, die je zu sehen war. Dieser Zynismus irritiert und lässt die moralische Perversion des US-amerikanischen Demokratie- und Rechtsverständnisses kurz aufleuchten, zumal die drei Mörderinnen auf historisch dokumentierte Fälle zurückgehen und die Figur der Mary Waston auf die Gerichtsschreiberin Maurin Dallas Watkins, die einst über die Verurteilung zweier Mörderinnen beim „Chicago Tribune“ berichtete. 

Barrie Kosky inszeniert im Großformat und von allem das Beste, großer Chor, großes Orchester, ein gigantisches Lichtkonzept, extravagante Klamotten, rasante DarstellerInnen und 140 Mitwirkende. Was am Broadway nicht mehr zu finanzieren ist, gelingt durch Subventionspolitik in Berlin, weshalb Kosky letztendlich die Aufführungsrechte für eine neue „Chicago“-Version bekam, während in New York noch die Inszenierung von 1997 zu sehen ist. Das Künstlerduo Ebb und Fosse ist für Kosky die amerikanische Version von Brecht und Weill, deren „Dreigroschenoper“ er im Berliner Ensemble 2021 inszenierte. Die Ähnlichkeiten sind im Bühnenbild durch die schnellen Wechsel von Varietéglitzer und der Vergitterung menschlicher Existenz spürbar. Klein wirken die Menschen wie Marionetten. „Was für eine wunderbare Welt“ ist Ironie pur. „Die Welt ist am Arsch“ trifft es besser. 

Die manipulierte Volksmeinung mit riesigen roten Mundmasken darzustellen erinnert nicht nur an Koskys heiß geliebte Muppet-Show, sondern auch an seine witzige Operninterpretation von Schostakowitschs „Die Nase“ an der Komischen Oper. Nicht jeder Song ist wie im Programmheft angekündigt ein Ohrwurm, aber durchaus einige wie „All That Jazz“ oder „When You’re Good To Mama“. Manches klingt nach Weill, und summa summarum ist „Chicago“ ein optisches Highlight mit enormen Unterhaltungswert. 

Barrie Kosky, Co-Regisseur und Co-Choreograf Otto Pichler arbeiten die unterschiedlichen Stilarten bestens heraus. Unter ihrer Personenregie gewinnen die Figuren, zumindest die Mörderinnen trotz knallharter Typisierung und Konkurrenzkämpfen noch einen Schuss Menschlichkeit, denn die Gewalttätigkeit der Männer schimmert durch und die leuchtend orangefarbenen Gefängniskittel spielen auf die heutige Symbolik der „Orange Days“ für ein gewaltfreies Umfeld von Frauen und Mädchen an. Umgekehrt ist ein treu liebender Mann wie Roxies bessere Hälfte, ein absoluter Loser, ein trauriger Clown. Dass er gar nicht wahrgenommen, durch ihn hindurchgesehen wird, ist sein Lebenstrauma. Philipp Meierhöfer verwandelt ihn als „Mr. Zellophan“ zumindest einen Song lang in einen sympathischen Melancholiker. Als Staranwalt Billy Flynn glänzt Jörn-Felix Alt aalglatt, ein Conferencier der alten Schule, im Kopf ein kapitalistischer Ausbeuter ohne Gewissen, für den die ganze Welt nur ein Geschäft ist.

©Komische Oper, Foto: Barbara Braun

©Komische Oper, Foto: Barbara Braun

Sigulit Feig kassiert hinter der fürsorglichen Maske der Mama Morton als geschickt taktierende Opportunistin ab. Hagen Matzeit gibt eine herrliche Karikatur der Klatschreporterin Mary Sunshine ab. Er koloriert klassisch und improvisiert jazzig fantastisch. Im Mittelpunkt dieses grotesken Figurenkabinetts brilliert Katharine Mehrling als Roxie. Sie wandelt sich von der einfältigen Hausfrau zu einer wiefen, kessen Mädchenfrau, die sich von keinem Mann mehr etwas sagen lassen will, Anwalt inklusive, und sich sängerisch und schauspielerisch perfekt mit einem Schuss Ironie in Szene zu setzen weiß. Maria-Danaé Bansen gibt Konkurrentin Velma den androgynen Charme der 1920er Jahre und kreiert die Schwestern-Nummer mit Rockie nach dem Motto „Es ist nie zu spät“. Oder doch? Immer wieder konterkariert das Spiel den Text. 

Dazu kreiert Adam Benzwi mit dem Orchester der Komischen Oper einen herrlich schrägen Jazzsound, zuweilen etwas laut, aber über die Mikrophone der SängerInnen ausgesteuert, wodurch allerdings die Schauspielpassagen etwas aufgesetzt wirken. Doch das Marktschreierische gehört zum Showbusiness. Die Inszenierung ist nicht nur für Musical-Fans eine Empfehlung.  

Musikalische Leitung), Barrie Kosky (Inszenierung), Michael Levine (Bühne), Victoria Behr (Kostüme), Otto Pichler (Co-Regisseur, Co-Choreograf), Johanna Wall (Dramaturgie), Jean-Christophe Charron (Chöre), Olaf Freese (Licht)

Mit: Katharine Mehrling, Ruth Brauer-Kvam, Jörn-Felix Alt, Andreja Schneider, Philipp Meierhöfer, Hagen Matzeit, Petra Ilse Dam, Mariana Souza, Martina Borroni, Paulina Plucinski, Danielle Bezaire, Lindsay Dunn, Matthias Spenke, Sascha Borris, Nikolaus Bender, Lorenzo Soragni, Michael Fernandez, Andrii Zubchevskyi, Shane Dickson, Benjamin Gericke, Ivan Dubinin, Silvano Marraffa. 

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