Berlin – Brechts „Dreigroschenoper“ im Berliner Ensemble

Theaterkritik "Dreigroschenoper" im Berliner Ensemble präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

Barrie Kosky wagt in jeder Beziehung Neues, bleibt, wiewohl er wie kein Zweiter die Operettenschätze der 1920er und 1930er Jahre wieder entdeckt hat, weder in dieser Zeit noch in diesem Genre. Er macht aus Brechts Moritat großes funkelndes Amüsiertheater. Das Publikum soll etwas zu lachen haben. Nach der Pause mitunter scharf am Abgrund zum Klamauk gelingt dennoch jedesmal eine ernst zu nehmende Haarnadelkurve in die existentielle Nichtigkeit unseres Daseins, möglich durch die raffinierte Bühnenkonstruktion aus Treppen und Podesten mit immer neuen Perspektiven bei Soli, Liebesszenen und rasanten Verfolgungsjagden. Durch ihr ausgezeichnetes Spiel verleihen die SchauspielerInnen jeder Figur eine sehr eigenwillige und kraftvolle Aura. Im Mittelpunkt stehen weniger die Krüppel als die psychischen Deformationen im sozialen Überlebenskampf. Nur ganz kurz gibt Nico Holonics Mackie Messer den Charme eines Gentlemans. Er bleibt ein Kleinkrimineller aus der Gosse, brutal bis zum Anschlag, schwanzgesteuert, unsympathisch, trashig.

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©Jörg Brüggemann / OSTKREUZ

Aber die Frauen zerbrechen nicht mehr an ihm. Sie lernen schnell seine Kaltschnäuzigkeit, am meisten seine Braut Polly Peachum, mit Cynthia Micas, in weißem Tüll Inbegriff einer grazilen multikulturellen Märchenfee, als wäre sie geradezu aus Tschaikowskys Schwanensee entwischt,

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©JR, Berliner Ensemble

dann knallharte Geschäftsfrau, die sich mit Lucy, alias Laura Balzer als selbstbewusstes durchtriebenes Girly, nach einem scharfen Zickenkrieg verschwestert. Die Freundschaften Mackie Messers gehen dagegen alle den Bach hinunter, selbst mit Tiger-Brown, seinem langjährigen Freund aus Kriegszeiten. Diese Beziehung beleuchtet Barrie Kosky durch die Besetzung mit Kathrin Wehlisch mit homophilem Touch. In Charlie-Chaplin-Optik wird Tiger-Brown jegliche Durchschlagkraft genommen.

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©Jörg Brüggemann / OSTKREUZ

Er agiert wie Mackie Messers Schutzengel hinter den Kulissen und kredenzt ihm sogar noch die Henkersmahlzeit den gewünschten Spargel, eine Slapstickeinlage, bei der das Lachen gefriert angesichts der Endzeit-Stimmung durch das quietschende Wägelchen a la Robert Wilson. Doch in dem Moment, als Mackie Messer mit der Schlinge um den Hals hoch über der Bühne schon im Todeskampf zuckt, kommt das märchenhafte Begnadigungsgesuch anlässlich des königlichen Besuchs.
Egal welche Figur man herausgreift, jede überrascht. Bettina Hoppe entdeckt in der Spelunken-Jenny eine subtile, nachdenkliche Frau, die sich, bis auf das Tiefste verletzt, mit Verrat rächt. Constanze Becker gibt Celia Peachum eine sexy Optik. Nackt unter dem Pelzmantel ist sie immer eine markante Erscheinung, sobald sie auftritt, an ihrer Seite als Ehemann Tilo Nest eine graue Eminenz, der sich auch zusammengeknüppelt mit Blut im Mund immer wieder aufrappelt und rigoros seine Ziele verfolgt. Er schwingt die große Peitsche, sie eine kleine, wesentlich intensivere.
Mit Aufforderung ans Publikum sich sängerisch und textlich einzubringen durchbricht Barrie Kosky die Theaterillusion. Immer wieder lässt er die Schauspieler für den Applaus posieren und das Orchester lautmalerisch kontrastieren und parodieren. Der Funke zündet. Jeder Song, exzellent interpretiert, vor allem von Josefin Platt, wird mit begeistertem Zwischenapplaus honoriert.

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©JR, Berliner Ensemble

Mit dieser „Dreigroschenoper“ hat Barrie Kosky für  das Berliner Ensemble einen Kassenschlager kreiert, der bestens zur touristischen Nachfrage im Theater am Schiffbauerdamm und zu Berlin als Amüsierhauptstadt vor sozialkritischem Hintergrund passt. Man wird schnell sein müssen, um Karten zu bekommen.

Künstlerisches Team: Barrie Kosky (Regie), Adam Benzwi (musikalische Leitung). Rebecca Ringst (Bühne), Dinah Ehm (Kostüme), Ulrich Eh (Licht), Holger Schwank (Tongestaltung), Sibylle Baschung (Dramaturgie)
Mit: Tilo Nest, Constanze Becker, Cynthia Micas, Nico Holonics, Kathrin Wehlisch, Laura Balzer, Bettina Hoppe, Josefin Platt, Heidrun Schug, Julia Berger, Nico Went, Julie Wolff, Nicky Wuchinger / Tobias Bieri, Dennis Jankowiak, Denis Riffel, Teresa Scherhar. Orchester: Adam Benzwi / Levi Hammer, James Scannell, Doris Decker, Vít Polák, Otwin Zipp, Stephan Genze, Ralf Templin
Dauer: 3 Stunden, eine Pause