Regensburg- „Sand“ – Standing Ovations für Georg Reischls neues Tanzstück bei der Uraufführung

©Gerhard W. H. Schmidt

Gleichzeitig entstehen Bilder vom Erstarren und Loslassen der Menschen, von Vereinzelung und Solidarität. Nicht jedes Thema erschließt sich in der gleichen Deutlichkeit, aber gerade das Assoziieren, Reflektieren und Entdecken macht den Reiz von „Sand“ aus.

Fast wie in Kubricks Science-Fiction-Klassiker „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968) tasten sich Louisa Poletti und Alessio Burani wie Eindringlinge über die Felsen auf neues Terrain einer unwegsamen Mondlandschaft vor. Sie heben die Hände als Zeichen friedlichen Sich-Ergebens und erobern im Wechsel mit anderen die Sandfläche, Symbol für die Erde schlechthin. 

In ihrer hautengen Funktionskleidung mit extravaganten Mustern wirken sie wie Jugendliche von heute, oszillieren zwischen Indigenen und Hightech-Robotern weniger geometrisch formiert als in „Juke Box Heroes“, Reischls letzter Produktion, vielmehr wie individuell technologisch gesteuerte Wesen. Noch expressiver hat sich der Tanzstil des Ensembles entwickelt, vor allem durch die bizarre Winkelung von Beinen und Händen, Balancen in waghalsigen Schrägstellungen, pantomimische Gesten, raffiniert verschlungene Drehungen und wuchtiger die Kampfschreie. 

©Gerhard W. H. Schmidt

Im Kontrast von ganz speziellem Ausdruck und gruppendynamischer Synchronie werden die Tanzsequenzen zum Narrativ, das einen großen Bogen von Urlaubsflirt am Strand bis zum apokalyptischen Weltenbrand schlägt, atmosphärisch gestützt durch effektvolle Lichtwechsel (Martin Stevens)  und die elektrisierende Musik des Soundartisten Nil Frahms. Zwischen neoklassizistischen Beats und grauer Stimmung funkeln lyrische Momente im Sonnenlicht. Statt mit Federn wird, von Fels zu Fels springend etwas erhöht, mit den Armbewegungen gebalzt (Tomaso Quartini) und das Weibchen (Rei Okunishi) hält geduckt still, wackelt zunächst nur mit dem Po, bevor sie tänzerischen Liebreiz entfaltet. 

Wenn sich David Nigro akrobatisch einen Felsbrocken hochwuchtet und über die erblühende Sandwüste hinweg schleppt, gelingt eine großartige Metapher menschlichen Raubbaus. Wenn die Tänzer mit Sonnenbrillen oder Haarschleier vor dem Gesicht blind vor Eitelkeit völlig passiv die brennenden Monitore beobachten, assoziiert man schnell den im Programmheft zitierten Appell Greta Thunbergs „…handelt, als ob unser Haus in Flammen steht“. 

Aus den Soli werden Duos, Terzette, Quartette, ein kleiner Kreis verschlungener Körper als Metapher solidarischen Handelns. Jetzt erschließt sich auch das rot leuchtende „Love“ auf manchen Trikots. „Sand“ hat jede Menge Tiefgang zu bieten.