"Kultur macht glücklich"


Berlin – „Club Amour“ und „Café Müller“ – Weiterentwicklung von Pina Bauschs Tanzstil beim Tanzfestival der Berliner Festspiele

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Berlin – „Club Amour“ und „Café Müller“ – Weiterentwicklung von Pina Bauschs Tanzstil beim Tanzfestival der Berliner Festspiele

„herses duo“©Ursula Kaufmann

Gekonnt mixt Boris Charmatz, der fünfte künstlerische Leiter des Tanztheaters Wuppertal seit Pina Bauschs Tod 2009, seine zweiteilige Choreografie „Club Amour“ (1997) mit Pina Bauschs Kultstück „Café Müller“ (1978). Er will über regelmäßige Wiederaufführung die Erinnerung an Pina Bausch lebendig halten und den Diskurs mit neuen Entwicklungen provozieren. Gerade aus dem Vergleich wird deutlich, wie großartig und zeitlos Pina Bauschs Tanzstil immer noch wirkt und wie subtil, zuweilen auch brachial  und innovativ es Boris Charmatz gelingt, diese spezielle Art zwischen Alltäglichkeit und Poesie zu tanzen, umzusetzen.

Alle drei Choreografien kreisen um Begehren und Sexualität. Boris Charmatz fokussiert auf Nacktheit. Sie symbolisiert im ersten Stück „Aatt enen tionon“ (1996) das Sein des Menschen in der Gegenwart zwischen provokanter Energie, tänzerischer Euphorisierung, Isolation und Vereinsamung. Wie ein Monolith ragt das Gerüst mit den drei TänzerInnen auf drei Minitanzflächen in die Nacht, umringt von Ballonlampen wie Planeten. Nacktheit, in der Regel sexuell aufgeladen, verwandelt sich in existentielles Sein, aber auch in Ästhetik pur. Im Gegenlicht wirken Körperlinien wie magische Aktzeichnungen. Neue Bewegungsmuster werden unter Beibehaltung einer Vorgabe neu ausgeleuchtet. Wie kann man tanzen mit einem erhobenen Arm? Synchron beginnen, ohne sich sehen zu können, präsentieren die drei TänzerInnen rhythmisch versetzt subtile Varianten wie in einem simultanen Laborversuch. Doch das Grundnarrativ bleibt das menschliche Zurückgeworfensein auf sich selbst. Jeder tanzt für sich aufgepeitscht vom Sound, immer wieder fallend, sich aufrichtend, streckend, springend, die Beine spreizend bis zur völligen Erschöpfung, wobei der Wechsel von Licht und Dunkelheit und ein langgezogener Ton wie der Ruf des Muezzin über den Tag-Nacht-Rhythmus den Fluss der Zeit miteinbezieht, ohne dass über hängende Beine oder gestreckte Arme menschliche Kontakte entstehen. 

Mit: Dean Biosca, Lletzia Galloni, Simon Le Borgne bzw. Eli Cohen, Némo Flouret, Christopher Tandy

© Evangelos Rodoulis

„Aat enen tionon“©Evangelos Rodoulis

Nackt werden die Muskelbewegungen zum Faszinosum, noch mehr im Pas de deux des zweiten Stücks „herses, duo“, ein Auszug von „une lente introducion“ (1997), getanzt von Boris Charmatz selbst und Johanna Elisa Lemke. Ohne schützende Kleidung, im direkten Hautkontakt rückt jedes Tasten und Stützen, Heben und Niedersinken die gegenseitige Achtsamkeit des Tanzpaares in den Mittelpunkt. Zur sphärischen Musik erzählt das Paar die Genesis einer menschlichen Beziehung Kopf an Kopf zwischen Harmonie und Dominanzansprüchen. Gemeinsam rollen sie über den Boden, suchen körperliche Balancen, ungewöhnliche Verdrehungen und Verschlingungen. Einmal schultert sie ihn, dann er sie wie eine Trophäe. Der Blick konzentriert auf das nackte Paar eröffnet noch mehr die muskulären Anspannungen und die artistische Geschmeidigkeit der Körper völlig frei von jeglichem Exhibitionismus.

Nah diesen beiden experimentellen Studien gipfelt das Begehren nach menschlicher Zweisamkeit in Pina Bauschs skurril melancholischem Kultstück „Café Müller“. Interpretiert von jungen TänzerInnen, gelingt eine subtile Weiterentwicklung in den Details, ohne den Puls des Originals zu verändern. Vergeblich suchen Menschen Begegnungen im nüchternen „Café Müller“ mit Drehtür und großen transparenten Plastikscheiben, nur mit Stühlen bestückt, aber nicht mit Tischen, um sich kennenzulernen. Wie blind stolpern die TänzerInnen den Stühlen entlang. Ein Mann und eine Frau umarmen sich verkrampft. Ein Dritter hilft. Legt die Frau in die Arme des Mannes, der sie kraftlos dennoch nicht zu halten vermag, so dass sie auf den Boden fällt.

Tanzkritik über Tanztheater Wuppertal "Club amour" und "Café Müller" bei Tanzfestival der Berliner Festspiele präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de.

© Uwe Stratmann

Noch ein Versuch und noch einer… verdichtet sich die Szene accellerierend zur skurrilen Slapstickeinlage, dem immer wieder ein aggressives, gegenseitiges Schleudern auf die Plastikglasflächen folgt. Liebe muss sich selbst finden, so die Botschaft. Im „Café Müller“ untermalt von Henry Purcells sehnsuchtsvollen Barockarien verharren alle im Zustand des Suchens, egal ob bi- oder homosexuell. Zurück bleibt ein Paar pinkfarbene Schuhe als ambivalente Antwort auf die verpasste Gelegenheit oder als Hoffnungsschimmer auf den nächsten Besuch. 

Mit: Emily Castelli, Milan Nowoitnick Kampfer, Tsai-Wei Tien, Reginald Lefebvre, Nicholas Losada, Naomi Briton