©Theater Regensburg, Marie Liebig
40 Geschichten und Filme sondierte Peter Eötvös mit seiner Ehefrau Mari Mezei für sein neues Auftragswerk. Bei László Krasznahorkais Roman „Melancholie des Widerstands“ (1989), einer dystopischen Parabel auf Osteuropa vor der Wende, wurden sie fündig. Eine kleine Stadt in Südostungarn wird durch die nächtliche Ankunft eines ominösen Zirkus in Angst und Schrecken versetzt. Hauptattraktionen sind der größte ausgestopfte Wal der Welt und ein zwergwüchsiger Prinz mit drei Augen, Inkarnation des Bösen mit der Botschaft nur „kaputt sind alle Dinge ganz“. Den 450-seitigen Roman mit seitenlangen Satzkonstruktionen verdichteten Mari Mezei und Kinga Keszthelyi zu einem stringenten 90-minütigen Libretto für „Valuschka“. In 12 Stationen entwickelt sich das Inferno der Angst, das mit einer Zugfahrt von Valuschkas Mutter beginnt und mit der Einlieferung ihres Sohnes im Irrenhaus endet. Wer anders denkt, wird weggesperrt.
Unter der musikalischen Leitung von GMD Stefan Veselka und der Regie von Intendant Sebastian Ritschel gelingt eine packende Inszenierung entgegen üblichen Opernerwartungen. Peter Eötvös spricht von einer grotesken Theaterkomödie mit Musik, in der ein Erzähler (Gabriel Kähler) die Handlung kommentiert. „Valuschka“ ist eine Melange auch Sprechgesang und atmosphärischen Geräuschen mit einem extremen Tonspektrum bis zum hohen Cis bei Valuschka und der Bürgermeisterin und instrumental über die Bassklarinetten bis in die Abgründe der Tiefe, apokalyptisch aufgemischt mit vier Schlagwerken mit überblasenen Plastikflaschen, überdimensionierten Kuh- und Signalglocken. Streicher und Bläser spiegelbildlich angeordnet intensiveren das Tonspektrum durch multiperspektivisch versetzte Effekte. Von Stefan Veselka überaus präzise, kraftvoll energetisch und zugleich subtil dirigiert werden alltägliche Geräuschkulissen, atonale Dystopie, aufblitzende klassische und populäre Melodien als Ausdruck psychischer Spannungen und harmonischer Integrität hörbar. Bach klingt an, „My Fair Lady“, ein Walzer. Und Benedikt Eders klangschöner Bariton bringt als Valuschka den Zauber der unbescholtenen Seele mit ein, jedesmal untermalt vom warmen Klang der Bassklarinette.
Das naturalistische Bühnenbild wie ein Bilderbuch zum Auffalten entführt in die marode Welt diktatorischer Staaten und offeriert atmosphärische Szenen in nahtlosen Übergängen, die in dunkler Nacht effektvoll, teilweise mit Fackeln beleuchtet diese abstruse Geschichte in ihrer erschreckend inneren Logik erhellen. Der ausgestopfte Wal, immer wieder präsent, wird zum Symbol zerstörter Natur und der böse Prinz, nur ahnbar in seinem Käfig hoch über der Bühne, dominiert das Geschehen als Lichtgewitter.
©Theater Regensburg, Marie Liebig
Plakate am Bahnhof künden von der nächtlichen Ankunft des Zirkus. Ein Tor schiebt hoch mit Blick in einen Waggon mit kartenspielenden Männern. Eine Wand klappt nach vorn mit Blick auf die Toilette, in die Valuschkas Mutter flüchtet, um nicht vergewaltigt zu werden. Eine alte Bäuerin wird malträtiert. Nur die junge, frisch gewählte Bürgermeisterin respektiert man wegen ihrer erotischen Ausstrahlung. Kirsten Labonte offeriert sie als den neuen knallharten Frauentyp, eine Strippenzieherin der Macht, die die vollkommene Diktatur anvisiert. Jubilierend singt sie „Es grünt so grün!“, von Peter Eötvös ironisch eigens für die deutsche Version eingefügt. Die Bürgermeisterin hat den Zirkus eingeladen, dem der Ruf vorauseilt, Dorf für Dorf zu verwüsten, wodurch sie sich mit Hilfe der Miliz als Retterin stilisieren kann. Ein fragwürdiger Frauencharakter ist auch Valuschkas Mutter. Theodora Varga interpretiert sie großartig zwischen provozierender Eitelkeit und der Angst vor Übergrifflichkeiten. Sie degradiert ihren Sohn hartherzig zum „Dorftrottel“ und zeigt in dessen größter Not doch tief empfundene mütterliche Sorge angesichts der marschierenden Soldaten, dargestellt vom 28-köpfigen Männerchor. Jede Szene lässt böse Erinnerungen und gefährliche Aktualitäten assoziieren.
Valuschkas Blick ruht viel zu sehr auf der Schönheit des Kosmos, um seine gesellschaftliche Diskriminierung zu bemerken. In einer berührenden Szene erklärt er den Betrunkenen in der Kneipe mit zwei Kerlen die Sonnenfinsternis. Sein „Es wird nie mehr schneien“ wird zum Leitmotiv. Valuschkas einziger Freund ist der Musikprofessor, der sich von seiner Frau, der Bürgermeisterin, getrennt hat und ebenfalls in seiner eigenen Welt lebt. Vor das Ultimatum gestellt, den Vorstand der „Grünen Bewegung“ zu übernehmen oder die Rückkehr seiner Frau ertragen zu müssen, wird er zum politischem Mitläufer und mitschuldig, wozu Roger Krebs‘ dunkler geschmeidiger Bass bestens passt. Valuschka findet durch die Hilfe der Bürgermeisterin Schutz im Irrenhaus, wo ihn der Professor besucht. In der Zelle schneit es als Zeichen von Valuschkas Reinheit. Doch das Geschehen hat ihm seine seelische Integrität geraubt. „Es wird nicht mehr schneien“, singt er. „Alles verstummt, sogar die Vögel und über alles legt sich die Stille.“
Peter Eötvös hätte sicher eine Freude an dieser Inszenierung. Aus gesundheitlichen Gründen konnte er nicht präsent sein. Nach dieser starken Komposition ist man jetzt natürlich neugierig auf die Uraufführung von Marc-André Dalbavies Auftragsoper „Melancholie des Widerstands“, ebenfalls auf der Basis von László Krasznahorkais Roman an der Berliner Staatsoper am 30. Juni.
Künstlerisches Team: GMD Stefan Veselka (Musikalische Leitung), Sebastian Ritschel (Inszenierung, Licht), Kristopher Kempf (Bühne), Martin Stevens (Licht), Harish Shankar (Choreinstudierung), Ronny Scholz (Dramaturgie), Tomas Stitilis (Regieassistenz, Abendspielleitung)
Mit Gabriel Kähler/Seymur Karimov, Benedikt Eder, Theodora Varga, Kirsten Labonte, Svitlana Slyvia, Roger Krebs, Jonas Atwood, Hany Abdelzaher, Peter Kmetsch, Michael Daub, Alexander Aigner, Daniel Schliewa, Momoe Kawamura/Chih-Yuan Yang, Seymur Karimov