München – Verdis „Falstaff“ als Live-Stream-Premiere in der Staatsoper

Opernkritik "Falstaff" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Bayerische Staatsoper/Wilfried Hösl

Falstaff kann seine Zeche nicht bezahlen und beschimpft seine beiden Diener als Betrüger. In seiner Überheblichkeit will er mittels zweier gleich formulierter Liebesbriefe zwei wohlhabende Damen, Mrs. Ford und Mrs.Page, verführen und über deren Ehemänner an Geld kommen. Die flotten Damen in Begleitung ihrer Freundinnen durchschauen das Spiel und drehen den Spieß in eine spaßige Revanche um. Parallel plant Mr. Ford, von Falstaffs Dienern informiert, eine Intrige, woraus sich pikante Verwicklungen ergeben. Am Schluss ist Falstaff der Gelackmeierte. Er trägt es mit Fassung. Was wäre die Gesellschaft ohne ihn?

Was inhaltlich zusammengefasst ziemlich trivial wirkt, bekommt  durch das eloquente, sehr dichte Libretto und Verdis raffiniert verwobene Musik, vor allem durch die hochkarätige Besetzung in allen Bereichen ungewöhnlichen Charme.

Mateja Koležnik, es ist ihre erste Opernregie, gelingt eine ausgesprochen fröhlich witzige Inszenierung, die durch Raimund Orfeo Voigts Bühnenbild ständig zwischen Realität und voyeuristischen bzw. märchenhaften Parallelwelten chargiert. Eine große Türenfront genügt, um im Hintergrund  Spielcasino-Atmosphäre aufleuchten zu lassen. Im Nu verwandelt sich die Szenerie in ein Hotel, eine Villa und im dritten Akt mittels Säulenarkaden und Lichtregie in einen geheimnisvollen Märchenwald mit immer neuen Blickperspektiven.

Durch Wolfgang Kochs körperlich und sängerisch imposante Erscheinung und versierte Bühnenerfahrung wird Falstaff trotz Rollendebüts ein „Prachtkerl im Spätsommer“. Mit enormen Tonspektrum, erstaunlichen Höhen und geschmeidigen Tiefen, die jederzeit ins Zornige und Bedrohliche oder ins Genüssliche, mitunter in derbe Breite umschlagen können, entwickelt Wolfgang Koch diesen Falstaff vom halbseidenen Alkoholiker zum euphorischen, fast tapsig naiven Hahnrei, dessen altes Fleisch ihn „noch zu manchem Vergnügen“ zu verhelfen scheint, der dann, völlig verblüfft, als gehörnter, gar nicht so unsympathischer  Möchte-gern-Liebhaber endet. Ganz ähnliche Höhen und Tiefen erlebt Ehemann Ford, von Boris Phinkasovich als elegant reicher Strippenzieher in Hellbau mit Cowboyversatzstücken gezeichnet, dem rasend vor Eifersucht die Ehe „eine Hölle! Die Frauen ein Dämon“ werden. Und dass derartige Sätze keine hohlen Phrasen sind, dafür sorgt das pfiffig witzige Damenquartett. 

Zunächst überbringt Mezzosopranistin Judit Kutasi als Mrs. Quickly ein „weiblicher Merkur“ mit wunderbar verführerischem Timbre und sexy hibbeliger Körpersprache die Liebesbotschaft ihrer Freundin und die Einladung zu einem Tête-á-tête, bei dem Ailyn Pérez als Mrs. Ford ihre weiblichen Formen sehr kokett in Szene zu setzen zu weiß. Ihr voluminöser Sopran kombiniert mit ihrem femininen Charme, knalligen Klamotten  ist nicht nur sehr verführerisch, sondern gleichzeitig erfrischend parodistisch. Nonchalant dominiert sie als emanzipierte Lady die Männerwelt und degradiert sie zu ihren Lakaien. 

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©Bayerische Staatsoper/Wilfried Hösl

Nicht minder gewitzt agiert ihre Tochter Nannetta. Mit Elena Tsallagova und ihrem frischen Sopran wandelt sich diese Figur vom selbstbewussten Teenager zur sirenenhaften Fee mit betörendem Stimmklang, zu dem Galeano Salas´ lyrischer Tenor wunderbar passt. 

Mateja Koležnik  hat ein Gespür für kleine Slapstickszenen, jede Bewegung perfekt zum Spiel und Verdis melodischen Einfällen.  Alles greift ineinander, bekommt durch die Kostüme (Ana Savić-Gecan) noch zusätzliche optische Akzente. Selten hört man derart schnell rhythmisiert lautmalende Schimpftiraden wie in diesem „Falstaff“.

Wunderbar kristallisiert das Münchner Staatsorchester unter der Leitung von Michele Mariotti diese komplexe Partitur mit ihren abrupten atmosphärischen Wechseln, überraschenden Gegensätzen, witzigen, teilweise echotisierenden Parodismen rasant heraus. Übermütig, fast gassenhauerisch intoniert das Orchester die Abschlüsse der Arien und Tutti, bis vor der Pause dann ganz unkonventionell ein sonorer Staubsauger die fiktive Dramatik hinweg saugt.

Nach der Pause bekommt das Orchester durch mehrere Einblendungen endlich den Stellenwert, den es verdient, wodurch sich das Opernerlebnis dieses Live-Streams wesentlich verbessert und ausbalanciert.

Mit einem Regieclou nach dem Librettoclou baut Mateja Koležnik ihre besondere Regiehandschrift auf. Das grandiose Kostümfest mit famosen Varieté-Damen in herrlich glitzernden Mini-Dessous und wogenden Federfächern a la Hollywood endet abrupt mit Schwarz-Weiß-Videos der Mitwirkenden mitten in der Wirklichkeit unserer Zeit inklusive Hygiene-Masken mit der finalen Quintessenz „Alles in der Welt ist Posse, als Possenreißer ist der Mensch geboren, Vernunft ist ihm kein fester Halt“. Und mit einem Schwenk der Videokamera auf das leere Parkett bekommt Falstaffs Einsicht „Ein jeder wird geprellt“ eine ganz neue Dimension. Chapeau!