Im Sinne Bernd Alois Zimmermanns Zeitphilosophie als Kugel fließt alles ineinander. Indem man etwas macht, komponiert, ist es schon Vergangenheit und beinhaltet gleichzeitig die Zukunft. François-Xavier Roth will dem Zuschauer die Möglichkeiten geben, Perspektiven zu verschieben. Welche modern ist, ergibt sich letztendlich aus der Position, aus der man sie reflektiert.
Unter François-Xavier Roths temperamentvollen Dirigat brachten die Berliner Philharmoniker die Vielschichtigkeit am Beispiel von Werken Igor Strawinskys, Bernd Alois Zimmermann, Claude Debussy und György Ligeti zum Funkeln.
Mit Igor Strawinskys „Symphonies d´instruments à vent“, in der auf amerikanische Hörästhetik veränderten Version von 1947 begann das Konzert in seiner polytonalen Rhythmik ohne motivische und harmonische Entwicklungen. Tonmuster wiederholen sich in Strawinskys typischen Baukastensystem in anderen Instrumentalgruppen dialogisieren, disputieren, finden in Tutti zusammen, wodurch sich ein ritualisiertes Hin und Her entwickelt. Als viel zu modern und ungewohnt floppte das Stück bei Uraufführung 1921, das als Tombeau für Debussy geordert worden war. Heute hat die Komposition mit ihrer ritualisierten Konzeption ihre avantgardistische Aura verloren.
Dem Prinzip der Steigerung folgte Bernd Alois Zimmermanns sphärisches „Konzert für Violine und großes Orchester“. In seiner pluralistischen Kompositionsweise schichtet er unterschiedliche Musikstile übereinander, deutlich hörbar Filmmusiksequenzen und Jazzelemente, weniger die karibische Rumbarhythmen. Die Schlagwerke lassen Meeresrauschen assoziieren. Die Bläser, insbesondere die Posaunen verkünden immer wieder das unheilbringende „Zorn Gottes“-Motiv. Alle zusammen überstrahlt Carolin Widmann mit der Violine, die zum ersten Mal und mit Bravour als Sologeigerin auftritt. Wuchtig, temperamentvoll in ihrer musikalisch und körperlicher Expression setzte sie mitreißende Akzente und begegnete dem Forte des Orchesters mit Fortissimo der Geige.
©Stephan Rabold
Der Höhepunkt des Konzerts war aber die alternierende Präsentation von Claude Debussys dreiteiligen „Images für Orchester“ im Wechsel mit György Ligetis „Lontano“ und „Atmosphères“. Unerwartete Gemeinsamkeiten und Unterschiede wurden so unmittelbar erlebbar. Beide malen mit Klängen. Bei beiden entstehen glitzernde Tonnetze, Reisebilder, bei Claude Debussy irdische, mit viel Lokalkolorit, tänzerisch, folkoristisch mit lautmalenden Naturimpressionen, bei György Ligeti als kosmisches Schweben in tonalen Vibrationen, Kollidieren, Entspannen. Ganz unterschiedlich dagegen ist die Dynamik. Debussys Musik flirrt durch extrem schnelle Dynamikwechseln, Ligeti entwickelt langgezogenen Klangflächen.
Nahtlos verbindet François-Xavier Roth die Werke und es ist faszinierend zu hören, wie diese markanten, ganz speziellen Musikstile ineinander gleiten. Aus Einzeltönen im pppp und faszinierenden Piano-Crescendi entwickelt Ligeti mikropolyphonische Klangflächen und entführt in sehr weit entfernte Sphären. Der Film „Odyssee 2001“, wofür er „Atmosphéres“ komponierte, wird assoziierbar.
In diesem Kontext klingt das Finale mit Debussys Finale „Iberia“, einst der absolute Hit spanischer Musik, schon etwas klischeehaft, zumal durch die verwendeten Stilkastagnetten der Charme der Carretillas verschenkt wird.
Michaela Schabel