München – Helena Trestíkovás Film „Anny“ über eine Prostituierte bekommt den Hauptpreis des Dokumentarfilm-Festivals 2021

Filmkritik "Anny" beim Dok.festival 2021 präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©DOK-Festival

Anny sieht nicht besonders gut aus, wirkt älter als sie ist. Die Spuren des Existenzkampfes zeichnen sich auf ihrem Gesicht ab. Freier bekommt sie trotzdem, weil manche Männer ältere Frauen als solider empfinden. Manchmal arbeitet Anny zu zweit. „Das ist sicherer“ und an einen deutschen Freier denkt sie immer noch gern zurück. 

Anny ist geschieden, kämpft um ein bisschen Glück in einem für sie sehr fragwürdigen System. In kurzen Statements blitzt Systemkritik auf. Die Pensionsansprüche sollen angehoben werden. „Auch für die Arbeiter?“, fragt Anny provokant. „Die Rente ist nicht viel mehr als ein Almosen.“ Trotzdem feiert sie ihren 50. Geburtstag fröhlich im Kreis ihrer Freunde mit Sekt und reich gedecktem Tisch. 

Mit 60 wagt Anny noch einmal eine Heirat mit einem Mann. Sie durchschaut dessen Motivation tschechischer Staatsbürger zu werden, wirkt trotzdem sehr beschwingt. Beide lassen sich ihre Freiheiten. Aber als sie wegen des Rauchens Lungenprobleme bekommt, ist er nicht für sie da und geht zu seiner Ex-Frau zurück. Der Traum gemeinsam in Ruhe alt zu werden zerplatzt.

Anny lässt sich nicht unterkriegen, auch wenn ihr die eigene Familie nur Sorgen macht. Der Enkelsohn muss weiterhin mit Diabetes leben. Die Enkeltochter unterbricht aufgrund falscher Freunde und damit verbundener psychischer Probleme ihre Ausbildung. Sie bekommt mehr soziale Unterstützung als Anny nach lebenslanger Arbeit. 

Weihnachten besucht Anny nicht nur die Enkeltochter, sondern auch die Mutter, die eigene Tochter in der psychischen Klinik. Wie immer bringt sie Geschenke mit. Keiner fragt, woher das Geld kommt. Anny bleibt gelassen. Sie kann weder weinen noch glauben.

Wieder steht Anny auf der Straße unter einem roten Regenschirm, veredelt durch klassische Musik. Sie will neue Erfahrungen machen. Es schneit. Kein Auto bleibt stehen. In der  Theatergruppe singt sie „Sag niemals nie“. Ganz kurz trägt sie jetzt ihre Haare und raucht entgegen der ärztlichen Verordnung noch immer. Mit 62 Jahren protestiert sie selbstbewusst in einer Demonstration gegen die Gewalt gegenüber Prostituierten. Doch auf dem Faschingsfest ihrer Theatergruppe, die sich selbstironisch Free-Risk-Pleasure-Group nennt, wir über die Verkleidung mit einer Scream-Maske ihr existentielles Elend im Innern spürbar. Sie tanzt ihren letzten Walzer. Ein Jahr später brennt die Totenkerze an der Toilettenkasse. Das sind starke, nachhaltige Bilder.

„Anny“ ist ein intimer Filme, ohne dass er Intimitäten zeigt, sehr verständnisvoll, ohne zu emotionalisieren und handwerklich sehr gut gemacht.  

Die Tickets für „Anny“ bekommt man über die Webseite des Dok.fest München