Locarno Filmfestspiele – Katharina Lüdins gelungener Debütfilm „Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag“ 

Filmkritik Lüdin „Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag“ präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de.s

©Silva Film GmbH

Die beiden Pärchen leben in einem alten Haus mit verwildertem Garten. Die nahen Baukräne verweisen auf bevorstehende Veränderungen, Sinnbild für die Beziehungen, die zum Labor emotionaler Wahrhaftigkeit werden und sich erst gegen Ende schlagartig in ihrer Komplexität eröffnen. Merit rückt mit ihrer Sehnsucht nach Neuem und Nicht-loslassen-können des Alten immer mehr ins Zentrum. Sie erträgt ihre Freundin Eva nicht mehr, die sie brachial demütigt. Lion muss Rose loslassen, die sich wiederum zu älteren Frauen auch zu Merit hingezogen fühlt, die wiederum die Beziehung zu einem alten Freund aufwärmt und ihre kleine Tochter lieblos anherrscht, die oft allein gelassen mit sich selbst spielt. Die Szenencollage spiegelt alltägliches Gefühlschaos und dennoch, das ist der Clou, nur Fiktion, als Eva in der letzten Szene im Kino sitzt und damit die ganze Geschichte als Film im Film outet. 

Dass alles so authentisch wirkt, liegt an den langen Einstellungen, harten Schnitten, völlig unspektakulären Szenen, in die die Menschen wie im Alltag hin- und hinauslaufen. Das gibt Raum für Nachdenklichkeit in Echtzeit, die nicht jeder Zuschauer auszuhalten bereit ist. Ungeschminkt und leger agieren die Menschen. Es bauen sich Gefühle auf, aber auch Aggressionen. Innige Umarmungen werden zum Leitmotiv emotionaler Sehnsucht. 

Der wortkarge Film lebt von den Bildern, die ganz präzise komponiert sind und die emotionalen Stimmungen räumlich, lichtmäßig, farblich, durch Text und Hintergrundgeräusche und dramaturgisch sehr stimmig einfangen. 

Sie zeigen Momente, wie ein Mensch ist und nicht sein kann, die Angst, nicht geliebt zu werden, weil man nicht so ist, wie man sein sollte, weil man fortfliegen möchte und es nicht kann, wodurch Liebe Gewalt auslöst und sich die Frage stellt, wann eine Beziehung überhaupt zu Ende ist. Als das kleine Mädchen den Garten mit Schnüren verspannt, um sich geschützt und geborgen zu fühlen, wird umgekehrt das Eingeengtsein durch bestehende Beziehungen überdeutlich. Dagegen taucht der eingeblendete Hafen als Ort der Freiheit und des Fernwehs nur einmal auf. 

Durch die ruhige, unspektakuläre Darstellung und den gesellschaftsrevelanten Gehalt über den Film hinaus entwickelt Katharina Lüdin bereits bei diesem Debütfilm eine sehr beachtliche drehbuch- und filmmäßige Handschrift. Man darf auf ihre weiteren Filme gespannt sein. 

Künstlerisches Team: Katharina Lüdin (Buch, Regie, Schnitt), Katharina Schelling (Kamera),Winnie Christiansen, Anne Storandt (Szenenbild), Jana Charlotte Tost (Kostüme), Sunny Soost (Maske), Stefan Bück (Originalton), Jochen Jezussek (Mischung) 

Es wirken mit: Anna Bolk, Jenny Schily, Godehard Giese, Lorenz Hochhuth, Pauline Frierson, Wolfgang Michael, Unica-Rosa Blaue-Poppy