Richard Powers „Erstaunen“
Sehr subtil und empathisch schildert Richard Powers, was gesellschaftlich tagtäglich passiert. Kinder, die anders sind, werden als Außenseiter stigmatisiert, als krank diagnostiziert und kommen in einen Teufelskreis von Ablehnung, Rückzug, Verweigerung und Rebellion. Powers konstruiert um diese Problematik eine außergewöhnliche Vater-Sohn-Beziehung und weitet sie zu seiner Herzensangelegenheit, um die seine Bücher kreisen. Kann man überhaupt einem Schulkind erlauben, die Welt zu entdecken in Anbetracht ihres Zustands?
Der Vater, ein Astrobiologe geht sehr einfühlsam mit seinem Sohn um. Er zeigt Robin die Schönheit des Kosmos und wie man auf Lichtjahre entfernten Planeten nach Leben forscht, macht mit ihm Ausflüge in die Natur und lässt ihn seine eigenen Ideen und Experimente entwickeln, mit dem Ergebnis, dass der Junge die Schule argumentativ ganz verweigert und der Vater schließlich Hausunterricht organisiert.
Über den wissenschaftlichen Freund, bei dem schon seine Frau als Probandin für neurologische Feedbackstudien mitwirkte, darf Robin teilnehmen, um herauszufinden wie sich emotionale Energien übertragen lassen und neue Synapsen und Verhaltensänderungen aufbauen. Die Erfolge sind gigantisch. Mit jeder Sitzung übernimmt der Sohn das Lebensgefühl seiner vor Optimismus und Aktionismus sprühenden Mutter. Immer selbstsicherer macht er ihren Weg zu seinem und startet Protest- und Hilfskationen für gefährdete Arten. Er fühlt sich als Initiator der Zukunft, was sein Vater mit allen Kräften unterstützt, weil er auch selbst fühlt, wie sich seine Frau in Robin spiegelt und welchen Raubbau die Menschen mit der Natur treiben.
In Rückblenden offeriert sich die Liebe zu seiner großartigen Frau, deren charismatisches Wesen immer mehr in Robin aufleuchtet. Wie seine Mutter fühlt Robin das Leiden all der malträtierten Lebewesen.
Das Experiment wird zu einem grandiosen Erfolg. Robin meistert seine Rolle als Vorzeigekind mit Bravour und nützt die Chance auf sein eigentliches Anliegen zu verweisen „Möge jedes Lebewesen frei sein zu leben“.
Doch die US-amerikanische Politik will keine mündigen Bürger. Der Präsident streicht die Forschungsgelder, womit die neurologischen Feedback-Studien abrupt abbrechen und Robin in seine alten Verhaltensweisen zurückfällt.
Der Plot der Geschichte ist großartig. Das sprachliche Ausufern der Vater-Sohn-Gespräche in immer neue kosmische Sphären und biologische Biotope wirkt allerdings zuweilen etwas langatmig und abgehoben, um an das Schicksal all der Kinder anzubinden, die anders sind und doch den schulischen Canossa-Gang mit unempathischen Lehrern aushalten müssen. Aber Richard Powers geht es weniger um die Stigmatisierung der Kinder als mittels kindlicher Emotionalität und dem unbeugsamen Sinn eines klugen Kindes für das Wahre auf die Verwerfungen unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen.
©Jimmy Kets/Reporters/laif
Seine Romane „Der Klang der Zeit“ und das „Echo der Erinnerung“ wurden mehrfach preisgekrönt. Für „Die Wurzeln des Lebens“ (2018) erhielt er den Pulitzer Prize. Richard Powers (*1957) lebt in den Smoky Mountains.
Richard Powers „Erstaunen“, Fischerverlage, 2021, Frankfurt am Main, 317 S.