Prinz Harry – „Reserve“ – Wie sich die Monarchie selbst abschafft

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Reserve von Prinz Harry

©Penguin Verlag, 2023

Mit einem Treffen nach der Beerdigung seiner Mutter beginnt Prinz Harry seine Memoiren. Wenig wird kommuniziert. Man hat sich nichts zu sagen. Prinz Harry blendet zurück in die Kindheit. Er war immer schon „the spare“,  die Reserve für „the heir“, den Erben, falls seinem älteren Bruder als Thronanwärter etwas zustoßen sollte. Schon im Internat beginnt Willy, der ältere Bruder, von ihm abzusondern, der es hasst „im Doppelpack“ wahrgenommen zu werden und jeglichen Kontakt unterbindet. Diese Zweitrangigkeit wird zu Harrys großen Trauma. Ein noch größeres Trauma ist der Tod der heiß geliebten Mutter. Das Bild von Harry und William tapfer hinter dem Sarg der Mutter gehend ging um die Welt und durchzieht Harrys Erinnerungen leitmotivisch. Die Jagd der Paparazzi wird auch zu seiner Lebenspsychose. Egal, was er macht, die Journalisten drehen es ins Negative. Weit weg  von England fühlt sich  Harry am wohlsten. 

„Reserve“ liest sich wie eine ganz gewöhnliche Coming-Up-Geschichte, allerdings in einem außerordentlich exquisiten Milieu. Was Harry erlebt, erleiden viele Menschen, blendet man das Luxusniveau des Hochadels aus. Es gibt keine neuen rächenden Enthüllungen, wie man prognostizierte, um die Konsumneugier und Verkaufszahlen hochzutreiben. Ganz im Gegenteil, aus der Perspektive Harrys steht weniger die Familie als die Presse im Zentrum der Kritik.

Dass es in der königlichen Familie an allen Ecken und Enden an Wärme und Liebesbezeugungen fehlt, ist dem Protokoll öffentliche Person zu sein geschuldet. Doch Harry versteht die Macken seines Umfelds, hat Respekt vor der Liebe seines Vaters zu Camilla, Verständnis für seinen Bruder, freut sich Onkel zu werden.

Was ihm immer mehr zusetzt, ist die Sensationsgier der Paparazzi. Jede Jugenddummheit, jede Liebesbeziehung wird aufgespürt, öffentlich vermarktet und letztendlich kaputt gemacht, weil die Frauen und deren Familien unter dem permanenten Druck der Presse nicht leben wollen. 

Er wird zum Enfant Terrible der Royals und hat doch den größten Mut, kämpft im Südiran, in Afghanistan, macht schließlich sogar eine Ausbildung zum Kampfpiloten. Doch immer wieder wird er von Journalisten aufgespürt, was militärische Aktionen gefährdet, weshalb er seine Einsätze beenden muss und als „Feigling“ tituliert wiederholt die Häme der Presse zu spüren bekommt.  

Als Alternative bleibt nur noch ein Leben mit zweitrangigen offiziellen Auftritten, dazwischen Reisen, am liebsten nach Botswana,  Partys mit viel Promille, kurze Liebesbeziehungen und ständig neue Negativschlagzeilen. Das hinterlässt Spuren. Harry beginnt unter extremen Angstzuständen und Depressionen zu leiden. Eine Therapeutin hilft. Doch seine neue Liebe Meg heilt ihn.

Die mediale Begeisterung für das neue „Dream-Quartett“ schlägt schnell in Konkurrenzkampf, Kompetenzstreitigkeiten und Häme um, geschürt durch ein „überfleißiges“, man könnte auch sagen intrigantes Mitglied des Kommunikationsteams väterlicherseits, um Schritt für Schritt zwischen die beiden Familien der Söhne einen Keil zu treiben und Charles und Camilla souverän über „the Four“ zu stellen, so Harrys Version.

Harry verteidigt Meg. Er bewundert ihre „Fähigkeit „immer das Gute im Menschen zu sehen.“ Die Vorbereitungen zur Hochzeit lassen die Emotionen explodieren, angefangen vom „Bartkrieg“ über die Roben der Brautjunfern bis zur Wahl der Kirche, den Scharfschützen auf den Dächern und der heimlichen Heirat im Vorfeld. „Unsere Liebe begann privat im Stillen, und da unser öffentliches Leben zumeist leidvoll gewesen war, sollte die erste Weihung unserer Liebe im Stillen erfolgen.“ 

Die medialen Übergriffe werden immer stärker, ohne dass Harry sie weiter ausführt. Er beauftragt einen persönlichen Anwalt. Der komplette Absprung zeichnet sich ab. „Das wird eine Atombombe“, kommentiert Willys Sekretär die Situation. Aber Harry und Meg bleibt keine andere Wahl. „Diese  Familie habe den Zeitungen dies alles erst ermöglicht, indem sie weggeschaut und sie aktiv umworben habe und einige der Mitarbeiter im Palast hätten direkt mit der Presse zusammengearbeitet und sie informiert. Die Presse habe wesentlichen Anteil daran, dass es zu dieser Krise gekommen sei – ihr Geschäftsmodell beruhe immerhin darauf, dass wir uns ständig stritten.“ Damit trifft er genau die Problematik der Monarchie und seine eigene Position darin. Welchen Stellenwert hat die Monarchie heute noch für die Gesellschaft und Politik abgesehen von den Menschen, die durch sie Geld verdienen? Die Kosten, sie zu erhalten sind enorm und werden durch den von der Presse geschürten Hass und den daraus folgenden Sicherheitsmaßnahmen noch höher. Harry, immerhin „Spare“ der Krone, erzogen zur Unselbstständgkeit und finanziellen Abhängigkeit von seinem Vater, ohne Auto- und Haustürschlüssel, dafür ständig auf Flugreisen, Partys und einem Joint zur Beruhigung ist in diesem Showspektakel natürlich ein ideales Opfer der Presse. 

Insofern ist Harrys Schritt die Royals zu verlassen sehr konsequent und mutig. Er wagt, was Lady Diana in ihrer Zeit noch nicht gelungen ist, ein selbstbestimmtes Leben ohne Ehrentitel, Apanagen und Personenschutz. Jetzt ist Harry nicht mehr die Reserve. „Das ist ein Mann“, so Meg. 

Doch „Reserve“ ist auch ein Spiegel unserer gesellschaftlichen Defizite zwischen schönem Schein und Realität, zwischen Fake-News, übertriebenem Individualismus, der jegliche Selbstdisziplin, Ehre und Wahrhaftigkeit vermissen ist.

Trotz langatmiger Passagen, zumindest in den letzten 100 Seiten spannend geschrieben bleiben zwei symbolische Sequenzen in Erinnerung, eine kurz vor dem Tod der Queen, als ein Zierstück mit ihrem Konterfei von Harrys Christbaum  fällt und zerbricht , die zweite, als Harry am Schluss seiner Erinnerungen einen Kolibri, der sich in sein Haus verirrt hat, gegen dessen Willen in die Freiheit hinausmanövriert. 

Prinz Harry „Reserve“, Penguin Verlag, München 2023, 507 S.