Leonid Wolkow – „Putinland“ 

Buchkritik "Putinland" präsentiert von www.schabel-kultur-land.de

©Droemer Verlag, 2022

Ursprünglich Mathematiker und IT-Experte im Ausland, kam Leonid Wolkow auf Bitte Nawalnys zurück nach Russland, um seinen Wahlkampf zu leiten. Nawalny wollte ein Gegengewicht zu Korruption und Selbstbereicherung schaffen und die demokratische Entwicklung vorantreiben. Er erlebte die Repressionen, Nawalnys Erfolge und seine Vergiftung. Inzwischen wieder im Westen fühlt sich Leonid Wolkow als „Außenminister der russischen Opposition“. 

Im Erzählton, auf die wichtigsten Ereignisse seit der Auflösung der Sowjetunion fokussierend beschreibt Leonid Wolkow den brutalen Wechsel von der staatlich gelenkten Planwirtschaft zur freien, konkurrenzgesteuerten Marktwirtschaft, der schnell zum Kollaps führte. Menschen und Instiutionen waren vollkommen überfordert. Da die russische Bevölkerung keinerlei Ahnung von Geldwirtschaft, Unternehmertum, Preisgestaltung und Bewertung der eigenen Leistung hatte, wurde Russland in den frühen 1990er Jahren ein Eldorado für Trickbetrüger. Als Beamter einer Planwirtschaft, die in 5-Jahres-Plänen Ziele vorgab, hatten die Menschen bislang über den Sinn von Produktionen und Qualitätssicherung nicht nachdenken müssen. Eine Generation „Neuer Russen“ wusste allerdings schnell die kapitalistischen Möglichkeiten zu nutzen. Die Demokratie stand dagegen für Armut, Chaos, Achterbahnfahrt. Es entstand das kollektive Trauma ungerechter Behandlung. Man war im Kalten Krieg besiegt worden und erhielt im Gegensatz zu Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg keine Anschubhilfe.

Putin konnte in den Nuller-Jahren durch den wirtschaftlichen Aufschwung auf Grund der hohen Rohstoffpreise ein Image als Stabilisator aufbauen. Gleichzeitig degradierte seine Propagandamaschinerie den Westen zum Ort der moralischen Gefahr. Russland wurde zwar marktwirtschaftlich, aber das System entwickelte sich zur Autokratie, nicht weit entfernt vom sowjetischen System. Putin demontierte den demokratischen Föderalismus. 2001 verstaatlichte er den letzten großen TV-Sender NTW. Die 85 Gebietseinheiten, die eigentlich so selbstständig wären wie die Bundesstaaten der USA, werden inzwischen zentralistisch regiert unter Verwand Korruption zu verhindern. Nur noch bis zu 16 % bleibt von den städtischen Steuereinnahmen in der Stadtkasse, der Rest geht an die Regierung. Städte müssen dann bei der Regierung betteln gehen, um Projekte finanzieren zu können, was wiederum nur mit entsprechende Schmiergeldern geht, wodurch dieses zentralistische Haushaltssystem, ein Relikt aus der Planwirtschaft, enorm die Korruption förderte. 

Leonid Wolkow schätzt Putin weder als besonders klug noch gebildet ein, ein durchschnittlicher, „ausreichender Schüler“, ein unscheinbarer KGB-Funktionär, mit 35 Jahren immer noch Major, während andere schon Generäle waren. Aber Putin lernte schnell die Medien ausschließlich für sich zu nutzen, kein Geld ohne seine Zustimmung in die Politik fließen zu lassen und seine Macht zu stärken, indem er die Gouverneurswahlen abschaffte und von ihm ernannte Generalbevollmächtigte in sieben neu geschaffenen „föderalen Kreisen“ als seine Marionetten einsetzte. Bereits 2004 herrschte Putin allein. Das Volk blieb still und freute sich über etwas Wohlstand, Gartenhäuschen, Auto und Türkeiurlaub. Diese neue Mittelklasse stand Präsident Medwedew, ebenfalls eine Marionette Putins, durchaus positiv gegenüber und engagierte sich als ehrenamtliche Berater. Diese konstruktive Zusammenarbeit wurde überraschend durch eine raffinierte Machtrochade, dem Ämterwechsel von Medwedew und Putin beendet, wodurch Putin zwölf weitere Jahre Präsident sein konnte. Als Nawalnys Aufruf griff, nicht die „Partei der Gauner und Schlitzohren“ zu wählen, wurden Wahlergebnisse rigoros gefälscht, was über das Internet veröffentlicht werden konnte und zu den Winterprotesten 2011/12 führte. Putins Reaktionen wurden immer restriktiver. Die Bevölkerung fertigte er mit Fake-Narrativen und Scheinthematiken ab. Lukaschenko in Belarus machte vor, Putin nach, wie man Amtszeit verlängert und Demonstranten durch enorme Geld- und Haftstrafen mundtot macht. 

Durch den Angriffskrieg auf die Ukraine sind jetzt die Russen die Faschisten in Europa, Putin übernimmt Hitlers Rolle, so Leonid Wolkow. Das Fernsehen ist zum reinen Propagandamittel degradiert und ein Schutzpanzer für die Menschen vor der Realität. Die Opposition formiert sich trotz alledem in den sozialen Medien, die im Gegensatz zum autoritären digitalen System Chinas mehr kritische Informationen ermöglichen. 

Für Leonid Wolkow gehört Russland zu Europa. Er sieht den Krieg als Reinigung Russlands. Allerdings wäre Putins Tod jetzt fatal, würde ihn nur mystifizieren. Putin muss zur Rechenschaft gezogen und „der Albtraum Putinismus“ aufgearbeitet werden. Eine „Palastrevolution“ würde den demokratischen Transit befördern und „der Zivilgesellschaft einen Möglichkeitsraum“ schaffen. „Putinland“ eröffnet im Detail durchaus neue Perspektiven.

Leonid Wolkow: „Putinland“, Droemer Verlag, München 2022