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Karl Ove Knausgård, einer der wichtigsten norwegischen Autoren der Gegenwart, lernt bei seinen Begegnungen mit Anselm Kiefer einen Menschen mit einer „eigentümlichen Mischung aus Strenge und Gelassenheit“ kennen. Mit distanziertem Blick von außen beobachtet er ihn und puzzelt daraus ein ambivalentes Künstlerporträt und gleichzeitig seine persönliche Entwicklung, dessen Werk zu verstehen. Ausgangspunkt ist für Karl Ove Knausgård Edvard Munchs Bild „Der Schrei“, in dem über einen Menschen das Leid erfühlbar wird. Anselm Kiefer schafft dagegen Räume, in denen der Betrachter selbst das Leid fühlt. Karl Ove Knausgård interessiert, warum diese Bilder so viel Kraft entwickeln, warum sie von der Geschichte so aufgeladen sind und welche Rolle Anselm Kiefers Leben darin spielt.
Wie können Bilder ohne Menschen das Menschlichen so verdichten? Wie kann eine leere Landschaft voller Geschichte sein? Wie sieht sie eigentlich aus, die Beziehung zwischen der Kunst und dem Künstler? Und wer ist Anselm Kiefer?
Anselm Kiefers Vorliebe für Blei und Asche ergibt sich aus den vielen Konnotationen, die diese Materialien haben. Damit zu arbeiten, bedeutet die Arbeitsprozesse aus der Hand zu geben, sie ohne dingliche Zuordnung dem Zufall zu überlassen als Zeichen für etwas anderes. Seine gegossenen Bleilandschaften symbolisieren wie Flüsse das ständige Fließen und Verändern und zugleich analog zu den Wäldern das Mythische, Bedrohliche, Bleibende.
Bei Karl Ove Knausgårds Begegnungen mit Anselm Kiefer in dessen Atelier in Paris und Barjac, einer alten Seidenfabrik in der Provence, bei einer Laudatio in Freiburg, während des Besuchs in dessen Heimatstadt Donaueschingen mit Abstecher auf das Schloss mit dem befreundeten Fürsten zu Fürstenberg lernt er den Künstler, seine familiäre Prägung und seine Liebe zu Büchern immer besser kennen. In den Bewegungen wirkt er jugendlich. Seine Augen sind wachsam und er formuliert mit ingenieurhafter Nüchternheit. Karl Ove Knausgård beobachtet und beschreibt respektvoll, aber wie er dessen unvermitteltes Lachen immer wieder mit „Hehehe“ zitiert kombiniert mit der vergeblichen Suche nach Namen und Begriffen, die seine rechte Hand Frau Forelli souffliert, wirkt durchaus ironisch und zielt auf dessen biologisches Alter von 78 Jahren an.
Die Einladung zu Anselm Kiefers Vortrag in der Tate London über sein Verhältnis zu van Gogh wird zum Déjà-vu-Erlebnis. Er brilliert, genießt es im Mittelpunkt zu stehen. Karl Ove Knausgård indes wird, immer noch nichts publiziert, beim Festessen nicht neben dem Künstler platziert, sondern an einem Nebentisch. „Er ist ein Showman“, resümiert Karl Ove Knausgård, aber durch den Vortrag hat sich seine Denkweise verschoben. Die Lebensweise eines Künstlers hat eben nichts mit seiner Kunst zu tun. Anselm Kiefers Bilder sind Mittel etwas zu verbergen und zugleich zu enthüllen. Sie sind Außenräume und zugleich Innenräume, die die Tiefen des Bewusstseins erweitern.
Karl Ove Knausgård „Der Wald und der Fluss. Über Anselm Kiefer und seine Kunst“, Luchterhand Verlag München, 2023, S.175