Jia Tolentino „Trick Mirror – Über das inszenierte Ich“

Jia Tolentino „Trick Mirror - Über das inszenierte Ich“ präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©S. Fischer Verlage

Natürlich arbeitet Jia Tolentino geschickt an ihrem eigenen Markenlabel, sehr belesen, stilistisch gewandt, indem sie ihren Werdegang als Beispiel fremdbestimmter Verirrungen preisgibt, die Grenzen zwischen autobiografischer Realität und Fiktion ständig verwischen.
Doch die Gedankengänge, die sie in ausufernder Assoziationstechnik immer wieder von Neuem verknüpft, sind so neu nicht. Die weibliche Erotisierung der Dinge, die Reproduktion der Heldinnen in Literatur, Seifenopern und Kinderbüchern nach immer den gleichen Sehnsuchtsmustern sind längst vom Feminismus durchdekliniert, aber Jia Tolentinos Sozialisation erfolgte eben auch in diesen Denkrastern. Und wer in der feministischen und digitalkritischen Literatur nicht so bewandert ist, für den eröffnen sich durchaus neue Horizonte.
Mit zehn Jahren war Jia Tolentino schon internetsüchtig. Jetzt analysiert sie das Rollenspiel des Ichs im Netz. Menschen mit Internetprofil erschaffen sich ständig neu. Ihr Ich baut sich im Spiegel selbst provozierter Kommentare auf und kann sich nur durch immer neue Userreaktionen regenerieren, womit das eigene Rollenverständnis immer mehr in die Abhängigkeit vom Web gerät. Das Ego wächst an der Beharrlichkeit seiner Hasser.
Längst ist das Web aufgrund seiner Wirkung toxisch geworden. Es bläht Identifikationsgefühle genauso auf wie die Überbewertung der eigenen Meinung, die für sich allein völlig ohne Bedeutung ist und erst in der Masse Schlagkraft entwickelt. Das Web maximiert den Widerstandsraum. Dagegen zu sein ist viel leichter als dafür. Dadurch wird das Gefühl für Solidarität extrem vermindert und das Gefühl für das richtige Maß geht verloren.
Als Jia Tolentino als Teenager bei der Reality-Show „Girls v. Boys“ ihr mediales Persönlichkeitsprofil kreierte, wurde ihr zum ersten Mal die Hohlheit des Castings nach vorgegebenen Klischees bewusst. Verhaltensweisen mussten absolut vorhersagbar sein, damit sich die hypnotische Wirkung dieser Shows einstellte.

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Jia Tolentino©S. Fischer Verlage

Weniger Distanz hatte Jia Tolentino zu Drogen und deklariert ihre Sehnsucht nach religiöser Ekstase als Auslöser für ihren Drogenkonsum. An dem Tag, als sie das erste Mal Ecstasy nahm, hörte sie auf an Gott zu glauben, weil Frieden und Teilen als Form der Nächstenliebe durch die kapitalistische Realität und Rechtfertigung der Kriege ohnehin ad absurdum geführt wurden. Ecstasy suggerierte wie „Penizillin der Seele“die beste Version von sich selbst. Den weiteren Werdegang spart sie allerdings aus und wendet sich zunehmend allgemein gesellschaftlichen Themen aus ihrer essayistischen Arbeitswelt zu.
Trotz feministischen Denkens ist nach wie vor das Credo vieler Frauen die „Optimierung ohne Ende“ bis zum Ideal eines Instagram-Bildes, jung versteht sich, versiert in den Techniken der Selbstdarstellung. Was früher die Sisyphus-Hausarbeit war, ist jetzt die Sisyphusarbeit mit der Schönheit. Als Ergebnis von harter Arbeit und Disziplin verkörpert Schönheit den amerikanischen Traum von Aufstieg, Erfolg und Macht und neuerdings immer mehr zum ethnischen Symbol für Wert und Moral, aber auch für Körperakzeptanz, wobei aber der optimierende Schönheitskult an sich nie verschwand, sondern nur in Self-Care umbenannt wurde und Diäten in gesunde Ernährung. Frau optimiert sich jetzt nicht mehr für den Mann, sondern für sich selbst. Dabei umkreist Jia Tolentino ironisch ihren eigenen Weg von Yoga zu Barre-Übungen, um dem Körper gegen die eigene genetische Ausformung die Optik einer Balletttänzerin zu geben. Im Schnittpunkt von Kapitalismus und Patriachalismus optimieren sich Frauen, um den eigenen Marktwert zu steigern, jagen mit Fitness, Kosmetik und Kleidung einem ästhetischen Phänomen hinterher, das die Gene kaum hergeben.
In „Pure Heldinnen“ enthüllt Jia Tolentino die Folgen klischeehafter Erziehungsmodelle. Sie sucht nach den depressiven Heldinnen in der modernen Teeny-Literatur, die sich lieber umbringen als sich an dystopische Sozialisationsmuster anzupassen oder sich als austauschbare Ausschneidefiguren degradieren. Durch eine Reihe berühmter Romanprotagonistinnen und Zitate aus der feministischen Literatur beweist sie, wie wenig sich die Rollenzuweisungen verändert haben. Immer noch übernehmen die Männer die Heldenrollen. Frauen werden vom eigenen Leben zerrieben. Männer profitieren von den Ehen, nehmen sich ihre Freiräume, wachsen über die Ehe hinaus, die für Frauen zur Kontrollinstanz wird. Frauen werden in der Ehe beschränkt und sind von der Zufriedenheitsstruktur ihrer Männer abhängig. Ihnen bleibt imgrunde nur der Ausbruch aus der Ehe, wenn sie mehr werden wollen, wobei sie oft mit großen ökonomischen Nachteilen rechnen müssen.

In „Die Geschichte einer Generation in sieben Betrugsmaschinen“ weitet sich „Trick Mirror“, vielseitig recherchiert und polemisiert, zur Generalabrechnung mit dem US-amerikanischen Erfolgstraum gebaut auf Ausbeutung und Betrügereien, Hochstaplertum und Börsenspekulationen, der Betrugsmasche der sozialen Medien, der „Girlbosse“, „Amazon“ inklusive der Trump-Manipulationen. Die Erfolgsstory einzelner wird zum Albtraum vieler. Geschäftsideen mutieren zu Polypen, die mit ihren Tentakeln dem einzelnen jegliche Perspektiven nehmen, ihn zum Sklaven einer kapitalistischen Gewinnorientierung degradieren, ihn statt sozialer Vernetzung in digitale Vereinsamung treiben und ihn schließlich durch manipulierte Wahlen als Bürger aus der Demokratie ausschließen.
Frauenfeindlichkeit und Rassismus in den USA demonstriert Jia Tolentino am Beispiel von Charlottesville in Old Virginia, wo sie studierte und die Gruppenvergewaltigungen bei den Partys der Burschenschaften konsequent vertuscht wurden. Im „Kult um die schwierige Frau“ der letzten zehn Jahre begannen sich erst die Narrative über Promibiografien zu ändern. Endlich konnten Frauen ihre Geschichten erzählen, ohne Angst haben zu müssen erbärmlich zu wirken.

Mit „Ja, ich will“ heiraten, enden Jia Tolentinos Recherchen mit der Gender-Falle Hochzeit. Noch hat sie selbst der Faszination ihrer vielen Hochzeitseinladungen widerstanden, doch sie bekennt „immer alles aufgenommen zu haben, von dem sie wünschte, sie wäre dagegen“, dass alles, was sie schreibt, zwangsläufig falsch ist, was es leider nicht ist.

Jia Tolentino 1988 in Toronto geboren, wuchs in einem streng religiösen Elternhaus in Texas auf. Sie studierte Literatur und kreatives Schreiben. Jetzt lebt sie in Brooklyn und arbeitet als Kulturkritikerin für den New Yorker.

Jia Tolentino „Trick Mirror - Über das inszenierte Ich“ präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

Jia Tolentino „Trick Mirror – Über das inszenierte Ich“, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, 363 S.