Judith Hermann „Daheim“ 

Buchkritik von Judith Herrmann"Daheim" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©S. Fischer Verlage

Die Protagonisten, eine Arbeiterin in einer Zigarettenfabrik, könnte als zersägte Dame und Assistentin eines Zaubers nach Singapur reisen und ein neue Leben beginnen. Sie tut es nicht und erzählt in der Ich-Perspektive eine Generation später, wie sie in der Einsamkeit am Meer zu wurzeln beginnt, obwohl sie selbst und die Menschen in ihrem Umfeld im Grunde nur um sich selbst kreisen. „Wir sind Trabanten, denke ich, wir kreisen um unsere Sonnen, jeder um seine eigene“. Die Erzählerin jobbt in dem Touristenlokal ihres 60-jährigen Bruders Sascha, der sich in ein junges, verstörtes Mädchen verliebt. Nike wurde als Kind jahrelang in eine Kiste eingesperrt und agiert in ihrer ganz eigenartigen Welt, zu der niemand wirklich Zugang findet. 

Aus der sachlich, rein äußerlichen Betrachtung der Ich-Erzählerin schnitzt Judith Hermann die menschlichen Qualitäten ihrer markigen Charaktere heraus. Sie sind schlicht, am unteren Ende der sozialen Leiter, ungereist, ohne Visionen, was sie aus ihrem Leben machen könnten. Nur in Augenblicken fühlen sie menschliches Miteinander. Doch diese nicht ernst zu nehmen hieße, „alleine auf der Welt zu sein“.

Sascha hat Nike als Projektionsfläche seiner verlorenen Jugend gefunden. Für die Erzählerin ist der Weg zu einer Beziehung noch weiter und komplexer. Zu sehr ist sie seelisch in ihren Kindheitserinnerungen verhaftet, in Gedanken bespricht sie immer noch alles  mit ihrem Ex-Mann und oft denkt sie an ihre Tochter auf einer Reise in den Norden neue Horizonte sucht, um sich ebenfalls von ihrem bisherigen Leben zu befreien. In Mimi findet die Protagonistin eine sehr eigenwillige und selbstständige Frau, die ihr immer mehr Freundin wird. Deren Bruder, ein Schweinezüchter, hilft der Erzählerin mit einer Falle den Marder im Haus zu fangen, so Judith Hermanns symbolische Umschreibung für die innere Unruhe, Bedrohung und Suche dieser Frau, die Schritt für Schritt ein neues Daheim findet, weil sie bereit ist sich zu verändern.

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren, wo sie lebt und arbeitet.

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©Michael Wittewa

Ihr Debüt »Sommerhaus, später« (1998) fand große Resonanz. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller Liebe Anfang«. 2016 folgten die Erzählungen »Lettipark«. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter der Kleist-Preis und der Friedrich-Hölderlin-Preis. Ihre Roman „Daheim“ nominierte die Jury für den Leipziger Buchpreis.

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Hermann Judith „Daheim“, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021, 189 S.