Elizabeth Strouts „Am Meer“ – eine Familie, die sich in Zeiten Coronas wiederfindet

Buchkritik von Elizabeth Strout "Am Meer" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Luchterhand Verlag, 2024

Ex-Mann Williams holt Lucy und die beiden gemeinsamen Töchter Crissy und Becka aus dem verseuchten New York ins ländliche Maine. In kurzen Sequenzen lernt der Leser die familiären Beziehungen über zwei Generationen kennen. Aus Lucys Perspektive entwickelt sich ein Wechselspiel aus Ängsten und Hoffnungen. In den Problemen ihrer beiden Töchter spiegeln sich die eigenen sozialisierten, an die Töchter weitergegebenen Verhaltensformen wider, in den Gesprächen mit Williams und dessen Bekannten entstehen neue Sichtweisen. Die Zwei-Personen-Konzeption weitet sich zum mittelständischen Mikrokosmos, in den sich Lucy im Gegensatz zu ihren Geschwistern hochgearbeitet hat. Corona verändert das Leben aller, lässt Mitmenschlichkeit wieder als wichtigstes Lebensprinzip an Bedeutung gewinnen.

Ganz sachlich, ohne Larmoyanz und Sentimentalität erzählt Strout über das Auf und Ab von Lucys Gefühlen, von räumlicher Beengung, Sehnsüchten und neuen Sichtweisen. In Träumen und Erinnerungen brechen Lucys alte Wunden, die ihr die verhasste Mutter zufügte, wieder auf. Die fiktive gute Mutter, die sie sich als Lebensratgeberin ausgedacht hat, gibt ihr das Selbstvertrauen, das ihr aberzogen wurde, zurück. Dass sie von den Geschwistern als dominant und selbstsüchtig beurteilt wird, schmerzt sie, zumal ihre starke Intuition sie für das Leid anderer sehr empfänglich macht. So wird diese Lucy zwischen glücklichen und sorgenvollen Momenten hin- und hergerissen. „Welch Gnade, nicht zu wissen, was einen erwartet“. Lucy kämpft gegen ihre Ängste und ihre Monoperspektivität an, indem sie Verständnis aufzubauen versucht und wird damit zum Sprachrohr der Autorin. „Verständnis beginnt, wenn man nicht mit eigenen, sondern mit dem Kopf des anderen denkt“, ist ihre Botschaft in einer Welt der Mittelmäßigkeit, die sich „letztendlich wie ein Lockdown“ anfühlt, durch die man sich ähnlich wie die Protagonisten in Tschechows Stücken auf der Suche nach dem Sinn des Lebens durchschlagen muss.

Das ist durchaus gut konzipiert, aber nach zwei Jahren durchlebter Coronazeit in Deutschland kein Buch, das man gelesen haben muss.

Elizabeth Strout wurde 1956 in Portland, Maine, geboren. Sie zählt zu den großen amerikanischen Erzählstimmen der Gegenwart. Ihre Bücher sind internationale Bestseller. »Oh, William!« und »Die Unvollkommenheit der Liebe« waren für den Man Booker Prize nominiert. »Alles ist möglich« wurde mit dem Story Prize ausgezeichnet. 2022 wurde sie für ihr Gesamtwerk mit dem Siegfried-Lenz-Preis ausgezeichnet. Elizabeth Strout lebt in Maine und in New York City.

Elizabeth Strout „Am Meer“, Luchterhand Verlag, 2024, 285 S.