Venedig – 59. Biennale – „Die Milch der Träume“ – ein Resümee 

59. Biennale präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

©Simone Leigh, Foto: Michaela Schabel

In den „Giardini“ herrscht in den durchsonnten Novembertagen ohne Besuchermassen eine herrlich entspannte Atmosphäre mitten in der Natur mit Blick auf das Meer und Picknick im Grünen. Das Arsenal ist dagegen mit seinen endlos hintereinander gestaffelten Ausstellungsräumen, vorwiegend mit mehreren Werken von verschiedenen KünstlerInnen bestückt anstrengend, wenngleich man sich um eine spannungsvolle Dramaturgie bemühte. Wer als Kulturinteressierter  diese Biennale nicht besucht, hat tatsächlich etwas verpasst.

Die Konzeption

Diese 59. Biennale, wegen der Pandemie um ein Jahr verschoben, steht für Kuratorin Cecilia Alemani für all das, was zwei Jahre lang vermisst wurde, „die Freiheit, Menschen aus aller Welt zu treffen, die Möglichkeit zu reisen, die Freude, Zeit miteinander zu verbringen, die Praxis der Differenz, der Übersetzung, des Unverständnisses und der Gemeinschaft.“ 

Im Mittelpunkt steht der Körper, in seinen Metamorphosen, geprägt von Mythen, der indigenen Vergangenheit, in seiner Beziehung zur Technik und in seiner Verantwortung gegenüber der Erde. Über die „Zeitkapseln“ der Pavillons und die Themenräume im Arsenal ergibt sich ein facettenreiches Kaleidoskop künstlerischer Auseinandersetzungen als wahrnehmbare Zeitschienen, punktuelle Vertiefungen und kontrastierende Gegenüberstellungen. Das Ringen um Expression wird überall spürbar. Individuelle Neigungen für bestimmte Ästhetiken, persönliche Erfahrungen entscheiden letztendlich, wie das Kunstwerk vom Betrachter gesehen und wertgeschätzt wird. Informationstexte in Italienisch  und Englisch unterstützen das kognitive Verständnis.  

Die Prämierungen 

Unumstritten ist sicher die Prämierung der US-amerikanischen Künstlerin Simone Leigh für ihre erhabenen Skulpturen schwarzafrikanischer Frauen. Sie passt natürlich auch in das gegenwärtige Kunstbewusstsein schwarzafrikanische KünstlerInnen hervorzuheben.

Weniger nachvollziehbar wirkt dagegen der Goldene Löwe für den Pavillon Großbritanniens mit Sonia Boyces „Feeling Her Way“, eine Installation von Bar- und Studiovideos über den  Titelsong von vier berühmten Sängerinnen interpretiert. Umrahmt sind die Videos von Fotografien, die durch braungetönte Quadrate, Rauten, gesplittet durch knallbunte Dreiecke die Vielfalt der weiblichen Stimmen signalisieren sollen. Sängerisch sehr hochwertig, künstlerisch nicht mehr als durchschnittliches Design ist diese Auszeichung wohl dem Trend postkolonialer Wiedergutmachung geschuldet und eine Hommage für die Solidarität der Frauen. 

Der silberne Bär ging an Frankreich  für die Verwandlung des Pavillons in ein Filmstudio der 1930er Jahre inklusive Filmarchiv. Nach dem Motto „Dreams Have No Titles“ sollen Betrachter ihre eigenen Film träumen und ihn auch realisieren,  beispielsweise durch Tangotanzen  in der Bar. Top umgesetzt oder doch nur banal? Mit diesen Preisen degradiert sich die Biennale zum Schulwettbewerb, nach dem Motto, wer setzt das Thema am publikumswirksamsten um.

Hohes Niveau in vielen der 80 Pavillons

Es gab es wesentlich nachdrücklichere Pavillons, z. B. den ägyptischen. Eine scheinbar verlassene Frau sitzt an der äußersten Ecke eines Doppelbetts, mutiert in einer Folge von Räumen abgetrennt durch duftige Gazevorhänge zu einen Zweig mit frischen Blättern und schließlich zur Erde umgeben von Fotografien agrarischer Ausbeutung, eine wunderbare Metapher für „Mutter Erde“, die von den Folgen der Industrialisierung malträtiert wird. 

Zersplittert mit Brandspuren irritieren riesige Holzskulpturen am Eingang zum Schweizer Pavillon. In absoluter Dunkelheit schimmern  im roten Spotlight immer wieder riesige Hände, Mann und Frau als Verursacher des Raubbaus auf. Nur schemenhaft zu sehen, ist das emotionale Erleben umso größer. 

Die Zerstörung der Erde taucht immer wieder auf und verdichtet sich im estländischen Pavillon zur kolonialen und postkolonialen Ausbeutung. Eine antiquierte Druckerpresse rattert als Zeichnen der manipulierender Meinungsmache, während via Video das „Orchidelirium: An Appetite for Abundance“ die hoch industrialisierte Orchideenzucht mit der Vertrocknung der Plantagen kontrastiert wird. Ein Frau müht sich mit letzter Kraft sandverschmiert auf dem Brunnen. Sie spuckt nicht Wasser, sondern Blut, ein Szene, die sich einprägt. 

Starke Bilder, die allerdings zum reißerisch Plakativen tendieren, präsentiert Dänemark. Schon vor dem Pavillon werden Besucher vor der krassen Darstellung des Todes gewarnt. Die Szenerie offeriert sich als Stall mit viel Mist einschließlich des toten Menschengeschlechts, versinnbildlich durch einen weiblichen und männlichen, sehr authentisch wirkenden toten Zentaur. Wenn selbst die Halbgötter tot sind, ist die Welt nicht  mehr retten. Sie kann nur noch in einer Großaktion ausgemistet werden, um im  Herkules‘ Aufgabenmythos zu bleiben.

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Dänemark „We Walked the Earth“,Uffe Isolotto©Jacob Lillemose (Kurator) Foto: Michaela Schabel 

Brasilien zeigt filmisch das Gegenteil, den grandiosen Flirt mit mehreren Schlangen, die die Handgelenke einer Frau fesseln und neugierig als ein ganz neues Bild der Verbundenheit zwischen Mensch und Natur züngeln. Spanien visioniert eine Welt für alle durch Parallelvideos mit fröhlich spielenden Kindern aus allen Kontinenten. 

Den Schritt in die digitale Zukunft zeigt Japan über das Künstlerkollektiv Dumb Type, das bereits im Frühling im Münchner Haus der Kunst mit seinen Arbeiten faszinierte. Aus einem digitales Laufbahn kristallisieren sich im abgedunkelten Raum einfachste Fragen nach Wortbedeutungen heraus. Was ist ein Berg, was ein Ozean? Und mitten im Raum blickt man durch eine Verglasung hinab in das Untergeschoß auf einem Tisch als archäologischer Beweis für die ehemals analoge Lebensweise.

Noch extremer sind die sechs kinetischen Installationen im Korea-Pavillon, in denen Yunchul Kim futuristische Szenarien mit mythologischen und literarischen Geschichten verknüpft, darunter das technologische Monster „Chroma V“. Wie eine Hydra windet es sich mehrere Meter lang pulsierend durch den Raum. Natur blitzt in seinem Glas-Metall-Panzer nur noch als nebulöser Farbnebel auf. Ein wuchtiger Kronleuchter mutiert zum Kabelsalat und verwirbelte fluide Substanzen lassen metallische Feinteilchen schimmern.

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Korea „Gyre“, Yunchul Kim©Youngchul Lee (Kurator), Foto: Michaela Schabel 

Finnland hätte einen Preis für Minimalismus verdient. Eine Bank und ein Display genügen für das Projekt „Close Watch“, um die absolute Vereinsamung der Menschen und anonymisierte Abhängigkeit von Betriebsstrukturen via digitaler Kommunikation erleben zu lassen. 

Klare politische Statements kommen aus Osteuropa. Die Leere im russischen Pavillon spricht für sich. Der medial viel besprochene Beitrag der Ukraine, Pawlo Makows kinetischen Installation “Fountain of Exhaustion. Acqua Alta” ist in Randlage des Arsenals leider etwas abseitig positioniert  und die Sandsäcke im Zentrum der Giardini als Symbol der Künstler, die nicht kommen konnten, vermitteln wenig Expression. Im deutschen Pavillon legte Maria Eichhorn die Struktur des von den Nazis umgebauten Gebäudes frei und schuf damit eine beeindruckende Erinnerungsstätte. Zunächst öffentlich eher kritisch beurteilt, gewinnt diese Arbeit durch den russischen Angriffskrieg neue Aktualität. Die Schlichtheit der Ausgrabung und das freigelegten Mauerwerk vermitteln eine spirituelle Innigkeit, weitet den Blick über den Holocaust hinaus global auf alle Menschen in Not. Ergänzt durch Führungen an venezianische Erinnerungsorte entsteht hier eine Vernetzung über die Biennale hinaus. 

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Erinnerungsstätte, Maria Eichhorn©Yilmaz Dziewior, Kurator Foto: Michaela Schabel 

Arsenal mit Schwerpunkt großflächiger Malerei

Im Arsenal steht die Malerei im Mittelpunkt flankiert von Skulpturen und Installationen in intensiver Auseinandersetzung mit indigenen Darstellungen von Mensch und Landschaften teilweise in gigantischen Formaten. Ficre Ghebreyesus (Eritrea/USA) träumt von ihrer Heimat.

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©Ficre Ghebreyeus, Foto: Michaela Schabel

Felipe Baeza (Mexiko/USA) visioniert ganz andere Lebenswege und setzt seine Assoziationen in floralen und erotischen Transformationen um.

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©Felipe Baeza, Foto:Michaela Schabel 

Der indische Künstler Prabhakar Pachpute inszeniert in seinen surreal anmutenden Bildern die erschöpfende Arbeit in den Minen, in denen sich Menschen und Tiere zu Tode arbeiten. Landschaften werden erodiert, die Tiere symbolisch auch für die Menschen skurril deformiert.

Für Furore sorgen allerdings auch im Arsenal überdimensionierte Installationen und weitere Themen-Pavillons. Die deutsche Künstlerin Rafaela Vogel bringt in ihrer  gigantomanischen Multi-Media-Installation „Können und Müssen“ eine amüsante Parodie auf den Machismo ein. Ein bis auf das Skelett abgemagertes Gespann von zehn Giraffen zieht eine zum Rollwagen degradierte Kutsche mit einem überdimensionierten Penis umringt von kranken Organen. 

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„Können und Müssen“, Rafaela Vogel©Michaela Schabel 

In ähnliche Richtung zielt Elisa Giardina Papa (Italien, USA). Mit  ihrem in mehreren Kapiteln komponierten Video „U Scantu: A Disordery Tale“ erzählt sie die Loslösung junger Frauen aus der traditionellen Familie. Am Schluss ist das herrschaftliche Haus verweist. Die Türen stehen offen. Nur ein Ziegenbock spaziert herum, hüpft auf den Tisch, fühlt sich nicht gewürdigt und verflüchtigt sich wieder. 

Das sind nur einige Schlaglichter. Um die Vielschichtigkeit der Biennale zu erfassen, sollte man sich mindestes drei Tage Zeit nehmen. 

Bis 27. November ist die 59. Kunstbiennale noch zu sehen.