© Staatsoper Berlin, Gianmarco Bresadola
Erzählung und Musik verdichtet Peter Eötvös zu einem exakt durchkomponierten Opus, dessen Struktur man kennen muss, um es in seiner Qualität schätzen zu können. Für jede der 13 Szenen findet Eötvös eine eigene tonale Stimmung nach dem Modell eines durch reduziert und erweiterten Quintenzirkels in Halbtonschritten, wobei er die Kompostion immer in variierenden Dreiklangstrukturen aufbaut. Die erste Szene erklingt mit dem h bereits sehr atmosphärisch. Durch die Miteinbeziehung der Hardangerfidel verleiht Eötvös den hochemotionalen Sequenzen zusätzlich einen sehr flirrenden und gleichzeitig sehr norwegischen Charakter, wodurch Meer und Himmel, aber auch die Verzweiflung Alidas und Asles in ihrer grenzenlosen Dimensionen spürbar werden.
Gegen den Willen von Alidas betrunkener Mutter quartieren sie sich für eine Nacht bei ihr ein. Alida soll schlafen, während sich Asle um die Zukunft kümmert. Drei Morde in Serie begeht er, um an Geld, Boot und Quartier zu kommen. Seine Geige, sein einziges Hab und Gut, verkauft er, um Ringe zu besorgen, kann aber bei einem betrügerischen Schmuckhändler dem Reiz eines funkelnden Armbands nicht widerstehen. Bei einem Streit mit den alkoholisierten Fischern werden Asles Morde offenkundig. Die alte Weisheit „Wer tötet, wird selbst getötet werden“ wird als Lynchjustiz sofort realisiert. Von allem bekommt Alida nur wenig mit, weil sie ihr Kind zur Welt bringt. In den schlaflosen Nächten werden ihre inneren Stimmen hörbar über jeweils sechs Nornen in den Logen neben der Bühne, vergleichbar mit den antiken Sirenen. Ein alter Mann, der Alida schon als Kind kannte, kümmert sich nun um sie und ihr Kind.
© Staatsoper Berlin, Gianmarco Bresadola
Gealtert, grauhaarig, vom Sohn verlassen spricht Alida in der letzten Szene mit Asle, den sie immer noch liebt und bald zu sehen hofft. Begleitet von der flirrenden Melodie der Hardangerfidel, in deren langem finalen Ton Alidas Leben aushaucht verschwindet sich im Dunst unter einer grandiosen Wolke.
Großartig, sirenenhaft im Leid, authentisch als hochschwangere Frau und fürsorgliche Mutter singt und spielt die norwegische Sopranistin Victoria Randem diese Alida. Durch ihren Charme und ihre multikulterellen Wurzeln weitet sie die Figur Alidas auf die gegenwärtige Flüchtlingsmisere aus. Asle mit Linard Vrielink verkörpert einen kahlköpfigen Jungspund, liebevoll zu Frau und Kind, aber auch anfällig für die erotischen Verführungskünste der Hure (Sarah Defrise), rücksichtslos und aggressiv, unfähig zur intellektuellen Reflexion im Überlebenskampf, in den ihn die spießige Gesellschaft um hin herum hineindrängt.
Mit Kommentaren wie „Ich habe in meinem Leben schon zu viele von euch gesehen“ knallen Türen zu, entstehen zu Recht Aggressionen, so dass die Schuldfrage auf beiden Seiten zu suchen ist. Dazu entwickelt Regisseur Mundruczó Bilder menschlicher Vereisung, die sich im Bewusstsein festhaken, wenn Asle die alte Dame im Kühlschrank erfrieren lässt,
die besoffenen Fischer samt Hure in Breitfront an den Barhockern der Kneipe Ausgrenzung signalisieren
© Staatsoper Berlin, Gianmarco Bresadola
und im Gänsemarsch volltrunken dahintorkelnd sich selbst karikieren oder wenn das Geschmeide im Maul des Lachses Kiloweise als Gier nach märchenhaftem Reichtum funkelt.
„Sleepless“ an der Staatsoper Berlin ist ein überaus spannender Opernabend, den das Publikum auch nach der Weltpremiere mit frenetischem Beifall zu würdigen weiß. Die Uraufführung macht neugierig auf weitere Inszenierungen.
© Staatsoper Berlin, Michaela Schabel
Künstlerisches Team: Peter Eötvös (Musikalische Leitung), Kornél Mundruczó (Regie), Monika Pormale (Bühnenbild, Kostüme), Felice Ross (Licht), Jana Beckmann, Kata Wéber (Dramaturgie)
Es singen in den Hauptrollen: Victoria Randem (Alida), Linard Vrielink (Asle), Katharina Kammerloher (Mutter Alidas), Sarah Defrise (Hure), Tómas Tómasson (Mann in Schwarz)