"Kultur macht glücklich"


München-„Fantastisch Real – Belgische Moderne von Ensor bis Magritte“ in der Hypo-Kunsthalle

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„Kaiser Karl V. als Kind“, Jan van Beers, 1879@Hypo-Kulturstiftung, Foto: Michaela Schabel

In der belgischen darstellenden Kunst war durch die Altmeister der flämischen Malereitradition Hieronymus Bosch oder Pieter Bruegel dem Älteren immer schon das Magisch-Surreale mit dem Realen eng verbunden. In der modernen Malerei bricht dieser Dualismus auseinander. Zum einen blieb bis zum Expressionismus nicht zuletzt durch die Verelendung der gesellschaftlichen Verhältnisse eine starke Affinität zur realistischen Malerei, andererseits rückte durch Künstler wie René Magritte das Surreale in den Mittelpunkt. Nach dem Motto, nichts sie so einfach, wie man glaubt, suchte man unter der Oberfläche die Mysterien. Der Künstler blickt hinter die Dinge  nach innen, wie es Edmond Picard, Gründer der Zeitschrift „L’Art moderne“ formulierte. „Alles vibriert vor Seltsamkeit“. Diese ästhetische Symbiose des Realen und Fantastischen wird nicht nur  als „belgische Seele“ gewertet, sondern auch als Verschmelzung der kulturpolitischen Identitäten des französischsprachigen Wallonien und des niederländischen Flandern gesehen.

In zehn Kapiteln, die sich allerdings kunstgeschichtlich durch den Blick auf einzelne Künstler oder Künstlergruppen, nur wenige Frauen darunter, immer wieder überschneiden, entfaltet sich die belgische Malerei. Den Einstieg bildet eine wandfüllende Fototapete der Antwerpener Kunstakademie, die neben Rom, Florenz und Paris die viertgrößte in Europa war. 1830 wurde der belgische Staat gegründet. Es folgte unter Kaiser Karl V. eine staatlich geförderte Blütezeit der Kultur. 

Der französische Impressionismus und Pointillismus setzte sich in den 1880er Jahren auch in Belgien wie anderswo aus Unmut über die akademische Malerei durch.

Ausstellung "Fantastisch Real" präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

„Frau am Fenster“, Henry van der Velde, 1889@Hypo-Kulturstiftung, Foto: Michaela Schabel

Als Reaktion auf die wirtschaftliche und damit bedingte gesellschaftliche Krise, verursacht durch die Ausbeutung und Desillusionierung infolge der Industrialisierung, entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts der Symbolismus. Über die Kunst wollte man der entzauberten Welt symbolische Ideenwelten entgegenstellen. Die Vertreter des Symbolismus verstanden sich als spirituelle Anführer. „Alles vibriert vor Seltsamkeit. Unter dem ruhigen, friedlichen Leben scheint das Übernatürliche durch“, beschrieb Edmond Picard das ästhetische Konzept des „realen Fantastischen“. Allerdings bot dazu die Berliner Nationalgalerie mit der Ausstellung „Dekadenz und dunkle Träume – Der belgische Symbolismus“ Anfang des Jahres weit attraktivere Exponate. 

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„Orpheus in der Unterwelt“, Jean Deville, 1893@Hypo-Kulturstiftung, Foto: Michaela Schabel

Der große Ausstellungsraum in der Hypo-Kulturstiftung wurde für die Ausstellung geteilt, um in der einen Hälfte den „Maler der Masken“ James Ensor, mit Titelgeber der Ausstellung, vorzustellen, was möglich wurde, weil das  KMSKA, größtes Museum Flanderns, die bedeutendste James-Ensor-Sammlung der Welt besitzt. Fasziniert von den Karnevalsmasken, die Ensors Eltern in einem Souvenirladen verkauften, malte er die Menschen mit Masken, die wie Projektionsflächen der Charaktereigenschaften wirken, wodurch er menschliche Bösartigkeiten gleichzeitig demaskierte.

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„Die Intrige“, James Ensor, 1890@Hypo-Kulturstiftung, Foto: Michaela Schabel

Als „Das malende Skelett“ präsentiert er sich selbst parodistisch, indem er umgeben von Totenköpfen immer noch eine bunte Welt malt,  seinen Kopf mit einem Toteschädel übermalt und damit ein deutliches Zeichen eines Memento Mori setzt. Auch seine realistischen Bilder malt er sehr zeitkritisch. Der Ankauf im örtlichen Museum seiner bürgerlichen „Austernesserin“ wurde „wegen mangelnder Moral und Erbaulichkeit“ verweigert. Austern waren in der damaligen Zeit den vornehmen Menschen vorbehalten.

Wesentlich beeindruckender sind die Bilder im zweiten Teil des großen Ausstellungsraums, in dem „Die Welt der Arbeit“ nach dem Vorbild des französischen Malers Gustave Courbets in unterschiedlichen künstlerischen Handschriften in ihrer Armseligkeit bis zur Erschöpfung lebendig wird, obwohl Belgien um die Jahrhundertwende die fünftgrößte Industrienation in Europa war. Die Künstler zeigten die Schattenseiten harter Fronarbeit, Armut und Hunger, rückten Bauern, Fischer, Hafenarbeiter und Bergleute in den Mittelpunkt der Kunst. Xavier Mellery ein tief religiöser und isoliert lebender Künstler schuf  Arbeiten unter dem Titel „Das Leben der Dinge“. Mit Kreide leicht unscharf gezeichnet plaziert er Gegenstände an ungewöhnlichen Orten, lenkt so den Fokus auf den „Unort“, beispielsweise einen Krug auf einem Treppenabsatz und lässt so an Auf- und Abstieg, mögliche Scherben und spirituelle Höhen denken. 

Um 1900 entstand im Dorf Sint-Martens-Latem in der Nähe von Gent eine Künstlerkolonie, deren Mitglieder, enttäuscht vom industriellen Stadtleben und seinen sozialen Konflikten, nach dem schlichten Leben auf dem Lande suchten. „Rückzug aufs Land“ widmet sich der ersten Künstlergeneration. George Minne zählte zum engsten Kreis. Seine Bronzeskulpturen sprechen eine sehr berührende Sprache. Müde, ohne Hoffnung schweift der „Blick eines Mannes“ in die Ferne.

Ausstellung Werner Pauli in Landshut präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

„Blick eines Mannes“, George Minne, 1910@Hypo-Kulturstiftung, Foto: Michaela Schabel

Zu den ergreifendsten Bildern der Ausstellung zählt die „Brotverteilung im Dorf“. Durch den Fokus auf das Mädchen mit dem ernsten, trostlosen Blick, das mit ihren Händen einen Laib Brot wie einen Schatz an sich drückt, wird das Elend dieser Zeit fühlbar.

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„Brotverteilung im Dorf“, Franc von Leputten, 1890@Hypo-Kulturstiftung, Foto: Michaela Schabel

In der zweiten Künstlergeneration wurde Sint-Martens-Latem zum Ausgangspunkt des belgischen Expressionismus. In erdigen Farben, globigen Formen malt Constant Permeke den „Mann mit der Jacke“, erschöpft, unproportioniert, als versänke er bereits in der Erde, auf dass Staub zu Staub werde.

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„Mann mit Jacke“, Constant Permeke, 1928@Hypo Kunsthalle, Michaela Schabel

Die „Tendenzen zur Abstraktion“,  thematisch nicht im Spannungsfeld von „Fantastisch Real“, werden nur im kleinen Kabinett als Abstecher in eine ganz andere Kunstrichtung abgehandelt, obwohl die De-Stijl-Bewegung mit Piet Mondrian über den Konstruktivismus und dessen Reduktion auf geometrische Formen einen wichtigen Beitrag für die internationale Moderne leistete. Marthe Donas gilt als Pionierin der Abstraktion in Belgien. Inspiriert von französischen Kubistenkreisen zerlegte sie ihre Motive in geometrische Strukturen und Farbflächen. Die Formen von Krügen und Bechern werden fragmentiert und als Farbflächen zusammengefügt, so dass dynamische Linien entstanden.

Dem talentierten Bildhauer und Maler Rik Wouters, der wegen Augenkrebs bereits mit 33 Jahren starb, wird mit „Farben des Alltags“ ein ganzer Raum gewidmet. Durch das Studium der französischen Impressionisten fand er seinen Stil. Mit schnell gesetzten, skizzenhaften Pinselstrichen und lasierenden Farbauftrag schuf er leuchtende  Momentaufnahmen des Alltags, impressionistisch in der Lichtstimmung, expressiv in den Farben wirkt seine „Frau am Fenster“ ganz anders als die von Henry van der Velde.

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„Frau am Fenster“, Rik Wouters, 1915@Hypo Kunsthalle, Michaela Schabel

Zum Abschluss erwartet den Besucher das Highlight „Surreale Welten“ mit selten publizierten Arbeiten, u. a. von René Magritte, der Mitte der 1920er Jahre der Surrealistengruppe in Brüssel beitrat. Reale Objekte kombiniert er so, dass irritierende Effekte entstehen, sich das Fantastische in der Malerei mit abgründiger Magie verdichtet, unter den Dingen das Unsichtbare sichtbar wird. Ohne die Logik des Denkens aufzugeben verändert er nur die Perspektiven und Maßstäbe. Er vertauscht innen und außen, Vorder- und Rückseite, Lebendiges und Totes. Da der Mond eigentlich hinter dem Baum stehen müsste, entwickelt sich eine  Magie des Enthüllens, eine kraftvolle Polarität von Fakt und Fiktion, die durch den zeitlich genau fixierten Titel und des damit verbundenen scheinbaren Dokumentationscharakters noch verstärkt wird 

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„Sechzehnter September“, René Magritte, 1956@Hypo Kunsthalle, Michaela Schabel

Magrittes Bilder sind heute Ikonen des Unbewussten. Ihre Botschaften erschließen sich auf den ersten Blick und prägen sich ein, wenn man diese Bilder des Unbewussten bereits in sich trägt. 

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„Das Kap der Stürme“, René Magritte, 1964@Hypo Kunsthalle, Michaela Schabel

Paul Delvaux zählte zwar nicht zur belgischen Gruppe der Surrealisten, knüpfte aber mit seinen Werken an die Malerei des Fantastischen an. Überaus ungewöhnlich ist seine Darstellung von der Wiederauferstehung Jesu Christi. Die Schnittstelle zwischen Leben und Tod verwischt. Das Skelett wird zur Metapher eines anderen Lebens, durch die modern abstrahierte Architektur universell in jeder Zeit verortbar.

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„Grablegung“ Paul Delvaux,1953 @Hypo Kunsthalle, Michaela Schabel

Nach der Ausstellung kehren die Kunstwerke wieder in das KMSKA zurück, das nach einer  10-jährigen Renovierung mit einem modernen Innenkern in die bestehende historische Bausubstanz aus dem 19. Jahrhundert am 25. September 2022 wieder eröffnet.

Die Ausstellung „Fantastisch Real – Belgische Moderne von Ensor bis Magritte“ in der Hypo-Kunsthalle ist noch bis 6. März zu sehen. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.