Gianni Caravaggio „Als Natur jung war“ (2021), grüner Guatemala-Marmor, Foto: Andrea Rossetti, 2021 ©Gianni Caravaggio
Das Kunstmuseum Reutlingen | konkret wurde eigens in den Wandelhallen einer Metalltuch- und Maschinenbaufabrik gegründet, um die Schenkung umfassender Werkgruppen aus den Beständen der Stiftung für konkrete Kunst und der Privatsammlung von Manfred Wandel zu zeigen, darüber hinaus wichtige Einzelpositionen international renommierter Künstler.
Gianni Caravaggio, 1968 in Italien geboren, studierte Kunst und Philosophie, lebt und arbeitet in Mailand. Es geht ihm in seiner Kunst um nichts Geringeres als das Essenzialistische. Er offeriert die physischen Eigenschaften des Materials und dessen kulturelle Konnotationen, bearbeitet sie und schafft durch entsprechende Titel neue metaphorische Ebenen, die die verwendeten Werkstoffe nicht im zeitlichen Kontext, sondern in archaischer Zeitlosigkeit erleben lassen.
Gianni Caravaggio „Du“ (1999), Fotodruck auf Papier, Foto: Studio Gianni Caravaggio © the artist
Deshalb bevorzugt Gianni Caravaggio Materialien wie Bronze, Aluminium, Marmor, Terrakotta und Holz. Oft kombiniert er sie mit ungewöhnlichen Stoffen wie Polystyrol, Talkpuder, Zucker, Salz, Samen von Hülsenfrüchten, Anglerschnur, Wollfäden und Papier, stellt sie lieber auf den Boden als auf Sockel und Stelen, was direkte Bezüge zur Arte Povera der 1960er und 70er Jahre assoziieren lässt. Sechs Messingstangen von einem Mittelpunkt zu einem Halbkreis gelegt, mit rotem Faden verbunden lösen durch den Titel „Nach der Morgenröte befreit sich die Sonne“ ganz neue Überlegungen aus.
Gianni Caravaggio „Nach der Morgenröte befreit sich die Sonne“ (2021), geöffnete Form; Messing, roter Synthetikfaden, Foto: Andrea Rossetti, 2017 ©Gianni Caravaggio.
Der Reiz von Gianni Caravaggios Arbeiten liegt in der Synthese gigantischer Raum- und Zeitstrukturen. Sie werden regelrecht skaliert, wenn Stein und Samen unterschiedlichste Zeitdimensionen eröffnen. Wie ein Samen soll auch Gianni Caravaggios Kunst aufgehen.
Seine Arbeiten bilden nicht die Gegenwart ab, sondern spüren den kosmischen allgegenwärtigen Energien nach, die er sinnlich erfahrbar machen will. Natur und Landschaften, die zentralen Begriffe in Caravaggios Werk dienen rein der poetischen Empfindung und lassen kosmische Momente erleben. Der Boden oder eine Anglerschnur werden zum Horizont, Schwarz und Weiß polarisieren negatives und positives Universum.
Gianni Caravaggio „Positives Universum“ (2002/2004) und „Negatives Universum“ (2002/2004), Fotodruck eines Foto-Negativs, Polystyrol, schwarze Linsen, Foto: Studio Gianni Caravaggio ©the artist.
Bei „Bildsamen“ bröckelt weiße Wandfarbe auf eine schwarze Marmorplatte, wodurch ein neuer sich in die Wandtiefe wölbender Raum entsteht. Der Prozess des Zerfalls, des „Zu-Staube-Werbens“ verwandelt sich in das Gegenteil, neuen Raum zu schaffen.
In „Sugar, no sugar molecule“ verbindet Gianni Caravaggio kleine Marmorwürfel mit Würfelzuckerstrukturen zu einem gepixelten quaderförmigen Stein, der durch den Titel auf binäre Strukturen verweist. „Sugar – no sugar“ in ein antagonistisches Symbol von Lang- und Kurzlebigkeit verwandelt.
Gianni Caravaggio „Sugar no sugar molecule“ (2002), Weißer Carrara-Marmor, Bardiglio-Marmor, Zuckerwürfel, Polystyrol, Bleistiftschrift auf Wand, Foto: Studio Gianni Caravaggio ©the artist.
Bei „Handeln wie die Sichel des Kronos“ hängt ein orangefarbenes Nylonseil von der Decke herab und trifft auf einen in gedachter Verlängerung auf einen 155 cm hohem Bronzeguss des Seils. Die Trennstelle wird zum Schnitt zwischen »noch bewegt« und »nicht mehr bewegt«, zwischen lebendig und tot, aber eben in Umkehrung. Der rote, tote Teil wirkt frei. Ein Windstoß kann ihn bewegen. Der am Boden geometrisch verankerte Guss ist starr unverrückbar. Erstarrt kann sich nichts Lebendiges entwickeln. So lässt sich zu jedem Werk Caravaggios eine Geschichte finden, in der grundlegende Fragen menschlicher Existenz neu und sehr poetisch gedacht werden.
Die Ausstellung „Gianni Caravaggio – Als Natur jung war“, von Museumsdirektor Holger Kube Ventura bestens kuratiert, ist vom 1. Oktober bis 30. Januar im Kunstmuseum Reutlingen | konkret zu sehen.
Zur Ausstellung erscheint ein zweisprachiger Katalog mit Beiträgen von Nike Bätzner, Gianni Caravaggio, Linda Carrara, Daniela Ferrari, Holger Kube Ventura.