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Bollmann bleibt immer sachlich. Multiperspektivisch erklärt er Merkels Art aus ihrer Erziehung, dem politischen Umfeld und der medialen Resonanz. Durch den Beruf des Vaters war sie schon als Kind per se im Widerstand. Sie lernte die Tricks, vor allem unauffällig zu sein und zu schweigen, um ihre Freiheit zu behalten selbstbestimmt zu handeln und ihre Ziele konsequent durchzusetzen. Nichts war leicht in ihrem Leben. Ihr dabei verinnerlichter Pragmatismus und das Verständnis für fremde Kulturen durch ihre zahlreichen Reisen kamen ihr bei ihrer Karriere im Westen zugute.
Dokumentarisch zeichnet Bollmann die Entwicklung Merkels von „Kohls Mädchen“ zur „Mutti“ der Nation mit „Regieren auf Sicht“ mit etlichen Kehrtwendungen in immer komplexeren Krisensituationen nach. Das liest sich spannend wie ein Politthriller, weil eine Krise die andere ablöst, die Biografie eine knallhart kritische Reflexion im Rückblick auf eine politische Entwicklung in Deutschland im Kontext von EU und Weltgeschehen ist.
Bollmann zeigt die Stärken, vor allem auch die Schwächen der Kanzlerin, die mit 35 Jahren den Zusammenbruch ihres Staates erlebte und überzeugt vom westlichen Liberalismus Kanzlerin wurde. Ihre Neigung Probleme zunächst zu ignorieren und auszusitzen vergrößerte zumeist die Problemsituationen. Ihr diplomatisches Geschick diente oft in erster Linie ihrem Machterhalt als Kanzlerin, wobei Bollmann auch ihre politischen Weggefährten, insbesondere ihr Verhältnis zu Wolfgang Schäuble sehr kritisch unter die Lupe nimmt.
Sehr genau geht Bollmann nach den Jahren in der DDR (1954-1989) und „Politik als Beruf“ im Westen (1989-2008) im dritten Teil auf die „Krisenjahre: die Weltpolitikerin“ (2008-2021) ein. Mit Finanz – und Eurokrise, der Ukraine, den Flüchtlingen begann das politische Desaster. Mit Brexit, Terror in Deutschland und der Rückkehr der Flüchtlinge wurde 2016-2017 zum „Annus Horribilis“. Die Grenzen des Westens, Klimaproblematik und Rechte Gefahr leiteten die „Dämmerung“ (2017-2020) der Kanzlerin ein, noch getoppt von der Pandemie (2020-2021) in ihren letzten beiden Regierungsjahren.
Angetreten war Merkel mit dem Anspruch radikale Veränderungen durchzuführen, um eine «Spirale des Niedergangs» à la DDR zu vermeiden. «Sozial ist, was Arbeit schafft», lautete der zentrale Satz ihres Programms. Doch im politischen Alltag wandelte sie sich schnell zur konservativen Kanzlerin, die strategisch Probleme nicht von der momentanen Popularität aus angeht, sondern vom Ende her denkt, eigene Positionen in den langwierigen Verhandlungen konsequent verteidigt, um dann plötzlich mit einer völligen Kehrtwende zu überraschen.
Diese Kehrtwendungen der Kanzlerin erfolgen nach Bollmann immer nach demselben Muster. „Je mehr sie wegen vergangenen Handelns oder Redens in die Bredouille geriet, umso entschiedener warf sie das Ruder herum, oft hart bis an die Grenze zur Karikatur“, das war bei der Diskussion um die atomaren Atommülltransporte genauso wie beim Ausstieg aus der Energiewende. Mit derartig abruptem Meinungswandel reagierte sie mit einer Art Überkompensation auf ihre eigenen Fehler, analysiert Bollmann.
Dabei begann Merkel, die radikal an die Selbstregulierungskräfte des Kapitalismus glaubte, immer mehr in Richtung „fürsorglicher Staat“ zu denken. Das Flüchtlingsthema schob sie vor sich her, bis die Lage in Heidenau eskalierte und sich in Folge dessen Merkels legendärer Satz „Wie schaffen das“ zum Synonym einer „naiven Willkommenskultur“ verselbstständigte.
Statt zur Erneuerin wurde Merkel zur Bewahrerin. Der unerwartete Systembruch von 1989/90 ermöglichte ihre Karriere, die Schräglage der Welt drängte sie in eine ganz andere Rolle, als die, die sie anvisiert hatte, bilanziert Bollmann fairer Weise. Als die westliche Welt durch Globalisierung und Digitalisierung beschleunigt zu bröckeln begann, wurde das Bewahren zu Merkels oberster Pflicht. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in der EU und auf internationaler Ebene suchte sie, die Freiheit mit Kompromissen zu erhalten, allerdings oft zu kompliziert, als dass sie Verbesserungen erzielte.
Merkel, die einzige Politikerin, die noch die großen Konflikte des 20. Jahrhunderts persönlich erlebt hat, musste gegen ihre eigenen Visionen ein konservatives Land durch die Stürme der neuen Welt lenken. Die Entscheidungen, die sie getroffen hat, oft mittragen musste, entwickeln eine Eigendynamik, die uns noch viel abverlangen wird.
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Ralph Bollmann – „Angela Merkel – Die Kanzlerin und ihre Zeit“ Beck Verlag, München, 800 S.