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München – „Die Schneekönigin“ – Furiose Eröffnung der Münchner Ballettwochen in der Staatsoper 

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München – „Die Schneekönigin“ – Furiose Eröffnung der Münchner Ballettwochen in der Staatsoper 

© Bayerisches Staatsoper, Wilfried Hösl

Andrey Kaydanovskiy begnügt sich nicht mit einer bloßen Nacherzählung von Puschkins romantischer Liebesgeschichte. Kaum bauen sich atmosphärische Szenen auf, verfremdet er sie mit romantischer Ironie, nur möglich weil jedes Detail perfekt passt, die TänzerInnen einen ausgesprochen dynamischen Tanzstil und schauspielerische Expression entwickeln und Lorenz Dangels moderne Musikkomposition großartig zwischen Sturmtonalität und Kriegsgeknatter, klassischen Tanzzitaten und Swingmomenten, Tango-Innigkeit und byzantinischer Gläubigkeit oszilliert. 

„Der Schneesturm“ (1831), von Puschkins Zeitgenossen wegen Verhüllung und Andeutung als „implausibel“ bewertet, entwickelt gerade dadurch im Tanz einen dramatischen Spannungsbogen. Was sich in der Schneesturmnacht in der Kirche abspielt, wo Marja, Tochter eines Großgrundbesitzers, gegen den Willen ihrer Eltern den nicht standesgemäßen Valentin heiraten will, enthüllt sich erst im zweiten Teil, als die Soldaten aus dem Krieg zurückkehren. 

Leitmotivisch baut Andrey Kaydanovskiy Familienporträts ein, in denen er Marjas zunehmende Entfremdung verdeutlicht, zunächst mit Marja im Zentrum der Glaskugel, einem Familienerbstück, dann Marja von der Zofe herbeigezerrt, schließlich mit einer puppenhaft mechanischen Marja, die ohnmächtig umfällt. 

Ksenia Ryzhkova tanzt diese Marja überaus facettenreich. Wie ein Eisblock wehrt sie die Annäherungen dreier Verehrer ab. In natürlicher Frische, jugendlicher Überschwenglichkeit tanzt sie mit Jonah Cook als Vladimir ohne jegliches romantisches Pathos ein hinreißendes Pas de deux in keck frivolen Bewegungen frisch Verliebter, die durch infernalisches Geknatter und zugezogenen Vorhang plötzlich getrennt werden, wobei man weniger an den historisch Napoleonischen als an den Kalten Krieg denkt. In ihren Fieberträumen verzerrt sich Marjas menschliches Umfeld zu gigantischen Schattenwesen. Im Traum versucht sie zu fliehen und bleibt doch unter der Bettdecke, wo sie sich in tänzerisch expressiven Bewegungen gegen ihr Gefängnis wehrt. 

Die Glaskugel wird zum Schicksalsmoment. Dreht man sie, bricht ein Schneesturm los, wodurch sich neben den Liebesszenen höchst dramatische Naturszenarien ergeben. Durch eine offene Holztür tobt der Schneesturm draußen. Er erobert die ganze Bühne mit einem tonalen Inferno gewaltiger Schlagwerke, schrillen Trompeten, stürmischen Geräuschpegeln Vladimir kämpft mit personifizierten Sturmmännern einen aussichtslosen Kampf. Unerreichbar ist die leuchtende Kirche am Hügel. Er kommt zu spät zur Hochzeit und zieht daraufhin todtraurig in den Krieg. 

Ballett "Der Schneesturm" in München präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

© Bayerisches Staatsoper, Wilfried Hösl

Im zweiten Teil kehren die Soldaten zurück. Großartig choreographiert Kaydanovskiy die Traumatisierung der Rückkehrer als marktschreierische Slapstick-Budeneinlage mit Rollstuhl und Krücken zur Drehorgelleiermusik. Schnell verwandeln sich die tanzenden Heimkehrer mit ihren Mädchen in eine fröhliche Tanzgesellschaft. Nach dem Prinzip der Flüstertüte macht das Gerücht humorvoll die Runde, dass Marja eine neue Liebe gefunden hat, die Ksenia Ryzhkova und Jinhao Zhang (Burmin) in einem wunderbaren Pas de deux mit raffinierten Drehungen und Verschlingungen sehr poetisch vertanzen.

Ballett "Der Schneesturm" in München präsentiert von www.schabel-kultur-blog.de

© Bayerisches Staatsoper, Wilfried Hösl

Doch ob es tatsächlich ein Happyend mit Burmin gibt, den Marja einst in der Kirche in hektischer Verwechslung heiratete, bleibt offen. Voller Freude dreht sie an der Glaskugel und schon verjagt ein heftiger Schneesturm beginnenden Frühling. 

Mit dem „Schneesturm“ feiert das Erzählballett ein Comeback, das ohne besondere filmische Aufnahmetechniken schon als Live-Stream sehr gut zur Wirkung kommt. Man darf sich auf die Live-Aufführung freuen.

Hinter der Bühne Andrey Kaydanovskiy (Choreografie), Lorenz Dangel (Musik), Lorenz Dangel, Aleksandra Landsmann, Felix Trawöger (Sounddesign), Karoline Hogl (Bühne) Arthur Arbesser (Kostüme, Christian Kass (Licht), Serge Honegger (Dramaturgie) 

Es tanzen: Ksenia Ryhkova, Jonah Cook, Jinhao Zhang, Osiel Gouneo, Elvina Ibraimova, Robin Strona, Shale Wagman und das Ensemble des Bayerischen Staatsballetts